Herrmann, Elisabeth
»Ausgeschlossen. Zu viele Zeugen.«
Er wollte gar nicht daran denken, welche diplomatischen Verwicklungen so
etwas nach sich ziehen würde. Festnahmen im Transit. Mutter und Kind. Wahnsinn.
Ein Fressen für die Springer-Presse. Gerade war der zinslose Handelskredit auf 850 Millionen Westmark erhöht worden, die
Bürgschaft der BRD auf 950 Millionen. Erich Honecker wollte im September nach Bonn reisen. Früher
hätten sie die Frau und das Kind an den Haaren aus dem Zug gezerrt. Heute
brauchten sie Beweise. Hieb- und stichfest.
»Sie weiß genauso viel wie Lindner. Sie kann den BND-Agenten
identifizieren«, sagte sie.
Und warum kannst du das nicht?, war Stanz versucht zu fragen. Hast deine
Hausaufgaben auch nicht gemacht, was? Er war es so leid, sich von diesen
hochnäsigen Westweibern behandeln zu lassen, als lebten sie hier hinter dem
Mond. Er schluckte die Worte gerade noch rechtzeitig herunter. Sie hatte von
Anfang an klargemacht, dass sie nur den Plan des BND verraten konnte, nicht die
ausführenden Personen. Wer schleusen würde, wusste sie nicht. Manchmal kamen
eben auch Westweiber an ihre Grenzen. Stanz sah nervös auf den Zeiger der Uhr.
Weit nach Mitternacht. Ihnen lief die Zeit davon.
»Dann holt sie raus«, sagte sie nur.
Sie legte auf. Stanz zog noch eine Zigarette aus dem Päckchen und zündete
sie sich an. Das gab ihm ein paar Minuten Galgenfrist. Warum tat sich da
draußen nichts? Der Schaffner hatte für tausend Westmark die Fronten
gewechselt. Schweden. Er wusste nicht, für was er mehr Verachtung hatte: für
die Korruption an sich oder die Schnelligkeit, mit der sie sich bestechen
ließen. Er sollte sie holen, sobald die Frau ein Zeichen gab. Aber das tat sie
nicht. Spürte sie, dass ihr Fluchtplan gefährdet war? Hatte sie einen siebten
Sinn? Machten ihr die Hunde Angst oder das Flutlicht oder am Ende gar ihr
eigener wahnwitziger Plan? Stanz inhalierte tief. In diesem Zug saßen zwei
Hochverräter und ein westlicher Agent. Und ein Kind. Das Kind war das
schwächste Glied.
Er ließ die Zigarette fallen und trat sie aus. Dann ging er auf den
Bahnsteig und bestieg die Waggons, die von den Transitabteilen abgekoppelt
werden sollten.
Stanz hatte sich das Foto lange genug eingeprägt. Sie saß am Fenster in
einem Sechs-Personen-Abteil, den Arm um ihre Tochter gelegt, und starrte auf
die Kontrollbeamten mit den Schäferhunden, die wieder und wieder die
Unterseiten der Waggons inspizierten. Stanz zog mit einem Ruck die Tür auf.
»Frau Sonnenberg?«
Sie schrak hoch und starrte ihn an. Ihr Gesicht war blass, und sie war
schöner, als es die Fotos aus der Personenakte vermuten ließen. Das Mädchen
hielt ein Stofftier an sich gepresst. Es war müde und rieb sich die Augen. Die
anderen Mitreisenden starrten ihn erschrocken an.
»Ich muss Sie bitten, mich zu begleiten. Kommen Sie.«
»Warum?«, fragte sie.
»Ihr Mann möchte Sie sprechen.«
Im bläulichen Licht der Neonlampen schien sie den letzten Rest Farbe zu
verlieren. Sie sprang auf und fasste das Mädchen an der Hand.
»Mein ... Mann? Ist etwas passiert?«
Die Mitreisenden nahmen Irene Sonnenbergs Verwirrung als willkommene
Abwechslung in der Wartezeit auf. Stanz wusste, dass ihm wenig Zeit blieb.
»Ja. Folgen Sie mir bitte.«
Sie musste wissen, dass ihr Plan in diesem Moment gescheitert war. Stanz
war nicht der Schaffner, der sie hätte ins Transitabteil bringen sollen. Hinter
ihr rollte die Abteiltür wieder zu.
»Was ist los?« Ihre Stimme klang atemlos vor Angst.
»Frau Sonnenberg, wir wollen jedes Aufsehen vermeiden.«
»Ich bin hier, um Urlaub zu machen. Der Zug wird gleich abgekoppelt und
fährt nach Bergen weiter. Wir haben ein Zimmer im FDGB-Heim Prora. Hier.«
Nervös durchsuchte sie ihre Handtasche, bis sie einen Zettel gefunden
hatte.
»Mami? Was ist mit Papa?«
Sie beugte sich zu dem Kind herab. Ein zartes Mädchen mit Engelslocken,
die Ähnlichkeit zwischen beiden war unverkennbar.
»Nichts, mein Schatz.«
»Er wartet auf dich«, sagte Stanz zu dem Kind. »Da drüben, schau mal. Der
Waggon neben dem Lokschuppen. Kannst du ihn sehen?«
Das Mädchen drückte sich die Nase an der Scheibe platt. »Ja.«
»Da ist dein Papa.«
Irene Sonnenberg wankte, fasste sich aber wieder. Jedes Leben schien aus
ihrem Gesicht gewichen. Stanz kannte diese Momente. Es waren die Sekunden vor
dem Geständnis, es waren die Augenblicke vor dem endgültigen Zusammenbruch.
»Das ist Lenins Salonwagen«, sagte Stanz. »Und da gehen wir
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