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Herrmann, Elisabeth

Herrmann, Elisabeth

Titel: Herrmann, Elisabeth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeugin der Toten
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Geschmack im Mund wahr. Er hatte
sich auf die Zunge gebissen. Langsam rutschte er die Wand hinunter auf den
Boden. Er kam auf allen vieren an. Seine Hand streckte sich nach dem Handy aus,
doch der Schweißer war schneller. Er trat auf Teetees Finger. Nicht stark
genug, um sie zu brechen, aber es reichte, um Teetee vor Schmerz aufjaulen zu
lassen.
    Der andere hob das Handy auf und wischte es ab.
    »Ich muss ... telefonieren«, stöhnte Teetee. »Es ist dringend. «
    Der Schweißer zog seinen Fuß zurück, aber nur, um Teetee noch einmal in
die Seite zu treten. »Merk dir das.«
    Sie wandten sich ab. In Teetees Kopf jagten die Gedanken durcheinander. Es
war kein Platz mehr für Legenden und Lügen. Keine Zeit für rührselige
Geschichten. Die beiden zogen los, und es blieben nur noch wenige Sekunden für
das, was wesentlich war: die Wahrheit.
    »Nur einen Anruf!«
    Teetee rappelte sich auf und lief ihnen nach. Er humpelte, und seine Hand
schmerzte höllisch.
    »Lassen Sie es mich noch einmal versuchen. Bitte! Bitte!«
    Passanten auf der anderen Straßenseite drehten sich nach ihnen um. Den
beiden Arbeitern begann, die Sache peinlich zu werden. Sie gingen schneller.
    »Es geht um Leben und Tod!«, brüllte Teetee.
    Der eine blieb stehen, der andere zog ihn unwirsch weiter.
    Teetee rannte an ihnen vorbei und stellte sich den beiden in den Weg. Der
Schweißer wollte ihn zur Seite schieben.
    »Ich muss es versuchen. Ein Mal noch. Geben Sie mir Ihr Handy. Es tut mir
leid, ich wollte es nicht stehlen. Lassen Sie mich telefonieren!«
    »Schnauze«, sagte der Schweißer, aber es klang nicht mehr ganz so
selbstsicher. »Nimm dein eigenes.«
    »Das geht nicht. Das wird überwacht. Bitte. Ich muss jemanden warnen.«
    Die beiden marschierten weiter.
    »Es geht um meinen Vater!«, schrie Teetee. »Eine Frau ist auf dem Weg zu
ihm. Sie will ihn umbringen!«
    Der Schweißer blieb stehen und drehte sich um. »Dann ruf die Bullen.«
    »Ja mit was denn?«, schrie Teetee verzweifelt.
     
    Judith starrte an Merzig vorbei auf die Fische, aber sie sah sie nicht
mehr. Es war, als hätte jemand auch in ihrem Kopf einen schweren Samtvorhang
zur Seite gezogen, und alles war plötzlich wieder da. Das Hundegebell, die
Scheinwerfer und das Ta-klonk, Ta-klonk, Ta-klonk, das immer näher kam.
    »Judith?« Kaiserleys Stimme, ganz nah. »Was ist los?«
    »Sie ... sie hat was zu mir gesagt«, flüsterte sie. »Sie hat gesagt, sie
geht jetzt, weil sie dem Mann etwas zeigen will. Sie ist aus dem Wagen
gestiegen, und der Mann ist ihr gefolgt, und dann ... kam eine Lok. Es gab
einen Knall, ganz dumpf. Und dann schrie jemand. Hell und hoch. Schrie und
konnte nicht mehr aufhören.«
    Zum zweiten Mal an diesem Abend zuckte etwas in den Augen des
Stasi-Generalleutnants auf. Mitgefühl?
    »Das waren Sie, Frau Kepler. Sie waren schwerst traumatisiert. Ihre Mutter
wurde vor Ihren Augen erschossen.«
    Judith fühlte, wie ihr Verstand sich abschaltete, Region für Region, als
ob sie an ihrem eigenen Sicherungskasten stünde und einen Hebel nach dem
anderen umlegte. Sie verachtete, hasste, verabscheute diesen kleinen, alten
Mann auf seiner Cordcouch, der immer noch nicht am Ende seiner, ihrer, ihrer
aller Geschichte war.
    »Sie sagte, sie wolle Stanz das Versteck der Mikrofilme zeigen. Niemand
konnte sie aufhalten, sie wusste genau, was sie tat. Und dann kam die
Rangierlok für den Zug nach Bergen. Sie rannte los. Hinter die Lok. Über die
Gleise. Ins Flutlicht. Die Scharfschützen hatten keine Wahl.«
    Judith zog blitzschnell die Waffe aus der Tasche, sprang auf und richtete
sie auf Merzig.
    »Ihr Schweine. Ihr elenden, gottlosen Schweine! Ihr habt sie abgeknallt
wie eine Ratte!«
    »Judith! Nicht!«
    Sie drückte den Sicherungshebel nach unten, wie Dombrowski ihr das einmal
gezeigt hatte. »Wer war Rose?«
    Merzig hob die Hände. »Kind, leg die Waffe weg.«
    »Schau hier rein.« Sie richtete den Lauf auf Merzigs Gesicht. »Überleg dir
genau, was du sagst. Wer war sie?«
    Kaiserley stand auf, langsam und ruhig, aber Judith tänzelte zur Seite,
aus seiner Reichweite heraus.
    »Sag mir ihren Namen! Los! Und fick dich mit Rose und Stanz und Lindner
und...« Sie zielte auf Kaiserley, der die Hände hob. »... Weingärtner und all
diesem Scheiß! Wer war es?«
    Mit einem lauten Knall explodierte die Fensterscheibe. Risse durchzogen
das Glas wie ein riesiges Spinnennetz. Noch ein Knall. Judith konnte sich nicht
schnell genug ducken. Die Scheibe des Aquariums zersprang

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