Herrmann, Elisabeth
Weile vor sich hin.
»Und du?«,
unterbrach er sein Schweigen. »Warum kannst du das?«
Er war der
Erste gewesen, der sie das gefragt hatte. Judith schob den Putzeimer vor ihren
Füßen eine Winzigkeit nach rechts. Sie schnippte die Asche ins Wasser und
zuckte wieder mit den Schultern.
Sie war
clean. Nach dem Ende der letzten Entzugstherapie hatte sie bei Synanon
angefangen, als eine der vielen ungelernten Arbeitskräfte, die sich mühsam den
Weg zurück in eine Welt mit Weckern, Arbeitszeiten und der Gültigkeit von
Absprachen zurückkämpfen mussten. Doch der Ausstieg war eine Sackgasse. Niemand
wollte sie auf dem ersten Arbeitsmarkt. Ein Blick auf ihren Lebenslauf genügte,
um in der Aneinanderreihung von kurzen, verzweifelten Anfängen das System des
Versagens zu erkennen. Mit Anfang dreißig war der Kredit verspielt. Als sie gerüchteweise
hörte, dass Dombrowski Leute für eine Spezialausbildung suchte und sie nicht
fand, hatte sie sich für die Prüfung beworben. In kurzen Sätzen hatte er
erklärt, worum es ging: Entsetzliches in Erträgliches zu verwandeln.
Dombrowski
schaute hinunter auf seine kräftigen Möbelpackerhände.
»Der Tod
ist nicht Schlafes Bruder. Und schon gar nicht Asche und Staub. Er ist
vergehen, verrotten und verwesen. Es wabert eine Weile, und dann kommt was
Neues. Es ist noch nie etwas wirklich verloren gegangen auf dieser Erde. Wenn
man das weiß, ist es sogar mehr als nur ein Job.« Er stand auf. »Du kannst bei
mir anfangen, wenn du willst.« Nichts ging wirklich verloren.
Vielleicht
wäre das die richtige Antwort auf Kais Frage gewesen. Vielleicht hätte sie ihm
sagen sollen, dass der Unterschied zwischen Aufstehen und Weiterschlafen
genauso groß war wie der zwischen allem oder nichts. Und dass sie jeden Tag
aufs Neue gegen das Nichts kämpfte und immer noch nicht dahintergekommen war,
warum sich dieser Kampf eigentlich lohnen sollte.
Sie konnte
vom Schlafzimmer aus ihre Wohnung sehen. Der Mond stand schon am hellen
Abendhimmel. Sie verbot sich jeden Gedanken an dark Spots und musterte das Haus gegenüber. Auf einem der vielen gelben Balkone
stand ein Mann und goss Blumen. Zwei Stockwerke unter ihm warf jemand seinen
qualmenden Grill an. Zwischen den parkenden Autos spielten Kinder. Stockender
Verkehr auf der Autobahn. Hertha hatte gewonnen, viele Fahrer hupten und
schwenkten ausgelassen ihre blauweißen Schals aus den offenen Fenstern. Im
achten Stock des lila Hauses musste eine Wohnung gereinigt werden, damit in
zwei Tagen wieder jemand einziehen konnte. So war das Leben: Troja ohne
Gedächtnis.
Die
Müllsäcke standen, halbvoll und irgendwie entkräftet wirkend, mitten im Weg.
Die Haken an der Garderobe waren leer, keine Schuhe, kein Fußabstreifer.
Wahrscheinlich hatte Fricke schon alles Persönliche in die Müllbeutel gestopft,
das was Kriminalpolizei und Spurensicherung liegen gelassen hatten.
Überall,
an Türpfosten, Wänden, Lichtschaltern, Klinken hafteten noch die schwarzen
Rußspuren. Kernseife war das beste Mittel dagegen. Sie hob die Hand und strich
vorsichtig über einen verwischten, dunklen Fleck. Unter dem Ruß fand sich noch
der rote Abdruck einer Hand.
Der Sessel
im Wohnzimmer war nicht mehr zu retten, er war ein Fall für Fricke.
Verdickungsmittel war nicht nötig, weil das Blut schon lange getrocknet war.
Für die Wände und den Teppichboden reichten Chlor, Magnesiumoxyd und Benzin.
Bimsstein, Natriumkarbonat und Chrompolitur für Bad und Küche, eventuell
Nähmaschinenöl, falls die Fugen nachdunkelten und ein gleichmäßiges
Erscheinungsbild gewünscht war. Öl war auch gut gegen die Klebereste der
Siegel. Vielleicht noch eine Flasche Spiritus, sicher war sicher. Sie würde den
Rollwagen brauchen, wenn sie nicht mehrmals rauf und runter wollte.
Unter dem
Bett stand ein Paar Hausschuhe. Fricke musste sie übersehen haben. Judith ging in
die Knie und wollte danach greifen, da hielt sie inne. Rosa Frotteepantoffeln,
mittig hingestellt, millimetergenau nebeneinander. Mit einem Kopfschütteln nahm
sie sie und trug sie in den Flur zu den Müllsäcken. Dann inspizierte sie noch
einmal alle Schränke. Sie waren leer. Im Badezimmer hing ein Handtuch an der
Tür, schwarze Rußflecken wiesen darauf hin, dass die Leute der Spurensicherung
es zum Abtrocknen benutzt hatten. Im Mülleimer lagen hastig abgestreifte Einmalhandschuhe
und Klebefolienpapier. Der Spiegelschrank war versiegelt. Judith zerriss den
Aufkleber und inspizierte den Inhalt. Nichts
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