Herrmann, Elisabeth
fragte Judith. »Dann haben Sie doch den Absender.«
»Nein,
einfach.« Der Mann sah auf seine Uhr. »Ich muss weiter. Was machen wir denn
jetzt?«
Wir klang
gut. Judith klinkte den Schlüsselbund von ihrem Gürtel und öffnete Borgs
Briefkasten. Er war leer.
»Geben Sie
ihn mir. Ich erledige das.«
Der Bote
warf einen Blick auf das Briefkastenschild. Der Umstand, dass Judith den
Schlüssel hatte, schien ihm Vertrauen einzuflößen.
»In
Ordnung. Quittieren Sie hier bitte.« Er holte ein Klemmbrett aus seiner
Kuriertasche. Judith setzte ein nicht identifizierbares Gekritzel in die
Namensspalte. »Schönen Feierabend«, sagte sie.
Der Mann
nickte erleichtert. Auf quietschenden Kreppsohlen verließ er das Haus. Judith
betrachtete den Umschlag. Sassnitz. Möwen. Schiffe. Weite Welt und provinzielle
Enge. Eine Hafenstadt weit oben am Ende des Landes. Die Fähren nach Malmö,
Ystad und Trelleborg. Schmale Gassen, verfallende Häuser. Gastmahl des Meeres.
Fischfabrik. Interzonenzug. Bahnhof. Keller. Dunkelheit. Kalte Hölle.
Es war so
lange her.
Ein paar
lärmende Jugendliche kickten leere Bierflaschen über die Straße. Zwei Mädchen
liefen kichernd auf viel zu hohen und viel zu billigen Schuhen vor zur
Landsberger. Freitagabend. Jeans und Sweatshirt klebten an Judiths Körper, der
nach einer Dusche schrie, nach Wein mit viel Eis und ihrem Bett. Sie wuchtete
die Säcke auf die Ladefläche neben die Bücherkiste und setzte sich auf den
Türrahmen, den Umschlag in der Hand. Das Wort Sassnitz pulsierte hinter ihren
Schläfen. In den Duft einer vor Hitze dampfenden Stadt mischte sich der Geruch
von Lavendel und Staub. Sie zündete sich eine Zigarette an. Der Rauch biss in
ihrer ausgetrockneten Kehle, sie inhalierte ihn so tief, dass ihr einen Moment
schwindelig wurde.
Sie riss
den Umschlag auf und hielt eine Heimakte in der Hand. Zuerst begriff sie nicht.
Ein dünnes, hellgrünes Falzblatt aus holziger Pappe. Darauf ein Name: Judith
Kepler. Sie verstand immer noch nicht. Ihre Hände begannen zu zittern. Die
Schriftstücke waren Durchschläge, Kopien eines Originals, das mit einer
mechanischen Schreibmaschine erstellt worden war. Auf dem ersten Blatt klebte
ein Foto. Ein etwa fünfjähriges Mädchen mit langen blonden Engelslocken und
fast übernatürlich großen blauen Augen. Es musste aus einem Ausweis stammen,
denn unten rechts war noch der Rest eines Stempels zu erkennen. Judith starrte
es so lange an, bis ihre Augen brannten. Dann las sie die ersten Zeilen auf dem
Einweisungsbogen.
...
verwahrloste Wohnung... Kleidung des Kindes liederlich und schmutzig ... Mutter
schwachsinnig und alkoholabhängig ... Heimerziehung vorerst ...für zwei Jahre
...
Die Worte
zerflossen, lösten sich auf. Judith blinzelte. Ihre Wangen brannten, als hätte
man ihr zwei schallende Ohrfeigen gegeben. So wie damals, wenn sie einmal zu
oft den Löffel in den Marmeladentopf getaucht hatte. Wenn ein Schnürsenkel sich
gelöst hatte. Wenn sie dabei erwischt worden war, dass sie nach der Schule
nicht direkt zurück ins Heim, sondern zum Bahnhof gelaufen war. Zum Bahnhof,
nicht zum Hafen. Das hätte man ja noch erklären können, die Sehnsucht nach dem
Meer und dem Horizont, aber der Bahnhof? Immer wieder der Bahnhof. Im Lauf der
Jahre hatte Judith vergessen, was sie dorthin zog. Aber es endete immer gleich.
Trenkners hämische, nur schlecht verborgene Vorfreude, wenn sie Judith vor sich
hertrieb, die Kellertreppen hinunter, sie hineinstieß in den dunklen, feuchten
Raum und zuschlug, bis das Kind ein wimmerndes Bündel war. Du bist liederlich
und schmutzig. Asozial und verwahrlost. Sie hatte diese Sätze so oft gehört,
dass sie eines Tages tatsächlich angefangen hatte, sie zu glauben.
Gab es
Hass? Ja. Gab es Fragen? Tausende. Antworten? Keine. Nur ein Grab in Sassnitz,
aber niemanden, der sich an die Tote erinnern wollte oder konnte. Marianne
Kepler. Gestorben, kurz nachdem ihre Tochter ins Heim gekommen war. Ein kleiner
Stein aus Granit, vom Moos fast überwuchert.
Zuletzt
hatte Judith vor über zehn Jahren davorgestanden und verzweifelt nach einem
Gefühl in sich gesucht, das mehr war als Leere, Schmerz und absolute
Teilnahmslosigkeit. Als sie es nicht fand, war sie sich vorgekommen wie ein
Monster. Damals hatte sie ein Ersuchen auf Akteneinsicht gestellt. Sie wollte
mehr über sich wissen als ihr Geburtsdatum, den Tag ihrer Einweisung ins Heim
und den Namen ihrer Mutter mit dem Kreuz dahinter. Aber außer ein paar
Karteikarten
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