Herrmann, Elisabeth
draußen. Bücher. Reste von Wohnungsauflösungen, die
Antiquariate ablehnten und die man nur mühsam auf dem Flohmarkt loswurde. Als
sie den Karton auf die Pritsche des Transporters geschoben hatte, öffnete sie
den Deckel und warf einen kurzen Blick hinein. Es waren Bildbände und
Reiseführer, vor allem aus den sechziger Jahren. Sie zog einen heraus. Berge,
Meer, Serpentinen, bunte Häuser. Die Amalfiküste. Das könnte Italien sein.
Aber ganz sicher war sich Judith nicht.
Fricke war
ein kleiner Mann. Mit ungeduldigem Trippeln lief er vor der Eingangstür des
Hochhauses auf und ab und spähte in alle Himmelsrichtungen, statt die Schranke
zum Parkplatz zu öffnen. Judith unterdrückte einen Fluch und kurvte noch zwei
Mal um die Zufahrt herum, hatte mit dem klobigen Transporter aber keine
Chance. Dreiunddreißig Grad, Heimspiel Hertha, träges Wochenende. Alle zu Hause
beim Grillen auf den Balkonen.
Schließlich
stellte sie den Wagen mit Warnblinklicht zwanzig Meter weiter halb auf dem
Bürgersteig ab und stieg aus. Die Marzahner Promenade war eine städteplanerische
Gigantomanie aus den achtziger Jahren, als Wohnungen ebenso knapp waren wie
Zentralheizung, Fahrstuhl und Dreiraumküchebad. Eine Trabantenstadt, die sich
auf der anderen Seite des Autobahnzubringers fortsetzte. Anonyme Wohnwaben,
zugige Straßen, Massenhaltung. Aber nachts im Sommer auf einem Balkon im
zehnten Stock, mit einer Flasche eiskaltem Weißwein neben sich und einem leisen
Knistern im Ohr, wenn sich der Tonarm in die Rille senkte und sie die letzte
von Johnny Cashs American Recordings hörte,
dann war die Marzahner Promenade der perfekte Ort für Aliens wie sie. Man
musste es lieben, sich an Orten fremd und in der Musik zu Hause zu fühlen. Dann
liebte man auch dieses glitzernde Bild aus endlosen Häuserfassaden.
Judith
öffnete den Laderaum und betrachtete unschlüssig ihre Ausrüstung. Die
abgeschlossene Giftkiste. Die Eimer mit Scheuersand, Kernseife, Bürsten und
Schrubbern. Den schweren Schmiedehammer, mit dem sie manchmal Betten zerlegen
oder verrostete Fensterriegel aufsprengen mussten. Die Werkzeugkiste, in einem
Seitenfach die Dietriche, die jede Wohnungstür öffneten. Mit Wäscheklammern an
quer gespannten Schnüren aufgehängt, sachte schaukelnde schlaffe gelbe
Gummihände: die Arbeitshandschuhe. Den Stapel blauer Kittel, Dombrowski
Facility Management in weißen Buchstaben auf Brust und
Rücken gestickt. Zwei lagen zusammengeknüllt in einem Putzeimer. Sie hatte
Kai vergessen zu sagen, wo die Wäschekiste stand. Sie versuchte sich an sein
Gesicht unter dem Pony zu erinnern, aber sie hatte es schon vergessen. Er würde
am Montag nicht wiederkommen. Es lohnte sich noch nicht einmal, sich seinen
Namen zu merken.
Ihr Blick
wanderte über die Fassade des Hochhauses. Violette Querstreifen erleichterten
das Zählen und halfen bei der Orientierung. Das Gebäude gegenüber hatte gelbe
Streifen, andere blaue, rote oder grüne. Sie spürte die pochende Nervosität in
ihrem Brustkorb. Ein Tatort. Anders als Gerlinde Wachsmuths stille Einsamkeit.
Langsam drehte sie sich noch einmal zum Laderaum um und atmete tief durch.
Stadtluft, mit diesem leicht metallischen Geschmack auf der Zunge nach
abgefahrenen Reifen, Sonne auf Asphalt und rottendem Kompost.
»Peppi!«,
schrie jemand. »Lass das!«
Eine
ältere Dame zwei Hauseingänge weiter versuchte verzweifelt, ihren Köter am
Halsband aus den Bodendeckern im Vorgarten zu ziehen. Der Hund, eine kniehohe
dunkle Promenadenmischung, knurrte und geiferte an einem Haufen Lumpen herum,
den irgendjemand in die Büsche geworfen hatte. So klein die Töle war, die Frau
war sichtlich überfordert.
»Jetzt tun
Sie doch was!«
Im Blick
der Frau lag eine Wut, als wäre Judith verantwortlich für allen Dreck der
Erde.
»Jeder
schmeißt seinen Müll einfach in die Gegend. Und die Verwaltung kümmert sich um
nichts!«
Sie
bemerkte das Auto mit der offenen Luke.
»Sind Sie
von der Wohnungsbaugesellschaft?«
»Nein.«
Plötzlich
lief der Hund los und ließ ein speichelfeuchtes, undefinierbares Bündel direkt
vor Judiths Füßen fallen, als hätte man ihn darauf abgerichtet.
»Moment!«,
rief Judith.
Für die
Frau war das Problem damit gelöst. Sie ging einfach weiter. Der Hund raste
hinter ihr her, überholte sie und sprang voraus um die nächste Ecke.
»Hallo?
Was soll das denn?«
Fricke
schaute kurz zu ihr herüber. Wenn sie das Ding jetzt in den Rinnstein kickte,
machte das keinen guten
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