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Herrmann, Elisabeth

Herrmann, Elisabeth

Titel: Herrmann, Elisabeth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeugin der Toten
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Besonderes, bis auf vier Dosen
Florena, verschmiert beim Durchrühren von der Spurensicherung. Sie nahm den
Mülleimer und warf alles hinein, auch die beiden aufeinandergestapelten Rollen
Toilettenpapier, die auf dem Spülkasten gestanden hatten. Wieder stutzte sie.
Im Halter steckte keine Rolle. Jemand hatte stattdessen das Papier Stück für
Stück abgerissen und sorgfältig auf dem Spülkasten aufeinandergelegt. Kante auf
Kante. Ein Spleen, der nichts mit Sparsamkeit zu tun hatte.
    Judith sah
auf die Uhr. Feierabend. Morgen war auch noch ein Tag. Sie schnappte sich den
Mülleimer und leerte ihn in einen der Säcke. Dann rief sie den Fahrstuhl,
schleifte die Säcke hinein und drückte auf den Knopf für Erdgeschoss. Zum
Teufel mit Fricke. Er saß bestimmt schon bei seinem Feierabendbier. Der Gedanke
an etwas Kühles ließ ihre Kehle noch trockener erscheinen. Ein Sack fiel um.
Ein ordentlicher kleiner Stapel Wäsche purzelte heraus. Kochfeste Baumwolle,
gerippt, gebügelt. Ein Hauch von Lavendel stieg ihr in die Nase. Der Fahrstuhl
setzte sich ruckelnd in Bewegung.
    Sie
betrachtete die blauen Plastiksäcke, als würden sie sich auf einmal in etwas
anderes verwandeln, nein, als würde sie dieses Bild zu einem anderen führen,
Bild hinter Bild, Tür hinter Tür, und plötzlich sah Judith es vor sich, und der
Geruch von Lavendel und Bohnerwachs stieg ihr in die Nase. Sonne schien durch
ein hohes Fenster auf den Boden. Der Schatten seiner Flügel malte ein riesiges
Kreuz.
    Die
Fahrstuhltüren öffneten sich vor Judith wie ein stählerner Vorhang.
    »Hallo?«
    Sie fuhr
zusammen. Peppis Frauchen stand vor ihr. Der Hund jieperte an der Leine.
    »Machen
Sie das noch weg?«
    Hinter der
Frau tauchte ein Expressbote auf, der gewarnt durch ihren scharfen Ton aber gar
nicht auf die Idee kam, sie anzusprechen. Er betrachtete stirnrunzelnd die
fast unübersichtliche Menge an Briefkästen und begann seufzend, Namen um Namen
zu lesen.
    Judith
starrte auf den umgekippten Müllsack. Schließlich hockte sie sich hin und
sammelte alles ein. Geschirrtücher, Kissenbezüge, Pullover. Eine
Fernsehzeitschrift, wie zum Hohn aufgeschlagen auf der Seite mit dem heutigen
Programm, angebrochene Kosmetika. Peppis Frauchen drückte so lange auf den
Aufhalteknopf und überwachte die Aktion mit strengem Blick. Hoffentlich
räumte die Alte hinter ihrem Hund genauso her. Wahrscheinlich hatte er
Dünnpfiff, so oft, wie sie mit ihm Gassi ging.
    Judith
schleppte die Säcke in den Hausflur. Sie holte ihr Taschenmesser hervor und
begann, das Siegel von Borgs Briefkasten abzulösen.
    »Entschuldigung«,
sagte der Briefbote. Er war ganz in Grün gekleidet, schwitzte und schien in
Eile. »Ich suche Christina Borg.« Judith ließ das Messer sinken. »Ja?«
    »Sind Sie
das?«
    Erleichtert
wandte er sich zu ihr um und holte einen Din-A4-Umschlag aus seiner Tasche. Sie
hob abwehrend die Hand.
    »Christina
Borg lebt ...« Sie brach ab. Der Umschlag war hellbraun. »... hier nicht mehr.«
    »Das ist
eine Eilzustellung.«
    Er hielt
ihr den Brief hin, damit sie sich selbst von seiner Dringlichkeit überzeugen
konnte. Zögernd griff Judith danach. Die Schrift war in Tinte und von Hand
geschrieben, in einer aus der Mode gekommenen Korrektheit, die an alte Kontore
erinnerte. Sie drehte den Umschlag um und zog scharf die Luft ein. Ungläubig
starrte sie auf den Absender. Kinder- und Erziehungsheim Juri
Gagarin, Straße der Jugend 14, Saßnitz 2355. Aufgedruckt und echt. Ein
Original, und fast erwartete sie, dass er mit DDR-Briefmarken beklebt war. Aber
Stempel und Marke waren neu. Der Brief war drei Tage unterwegs gewesen, für
eine Eilzustellung eine ganz schön lange Zeit.
    »Für
Christina Borg?«
    Das war
unmöglich. Das konnte nicht sein.
    »Ja. Ist
sie nicht da?«
    Der Bote
hielt Judith offenbar für jemanden, der über Borg Bescheid wusste. In gewisser
Weise stimmte das auch.
    »Nein. Und
sie kommt auch nicht wieder.«
    »Dann geht
er zurück.«
    Er
streckte die Hand aus, aber Judith zögerte.
    »Den
Absender gibt es nicht mehr. Dieses Heim wurde nach der Wende geschlossen.« Was
auch gut war. Es existierte nicht mehr. Auch für Judith nicht. Bis dieser Brief
in ihren Händen gelandet war. Und plötzlich wurde ihr klar, was sie schon in
der Wohnung und im Fahrstuhl irritiert hatte. Die Schuhe. Das Toilettenpapier.
Die Wäsche, Kante auf Kante.
    »Ich kann
ihn aber weiterleiten.«
    Der Bote
kratzte sich am Hinterkopf. »Einschreiben.«
    »Mit
Rückschein?«,

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