Herrmann, Elisabeth
mit den Durchlaufstationen ihres Lebens wurde nichts gefunden.
1989, hatte man achselzuckend erklärt. Die Wende. Nicht nur in den Stasizentralen
hatten die Reißwölfe Tag und Nacht gearbeitet, auch in den Erziehungsheimen der
DDR. Es tut uns leid, Frau Kepler, aber mehr als die Eckdaten Ihrer
Einweisungen und Entlassungen war beim ehemaligen Rat der Stadt nicht
aufzufinden. Sie war hinuntergelaufen in die Bachstraße, doch die Häuser dort
zerfielen, und die Menschen kannten sich nicht mehr. Sie hatte herumgefragt und
nicht mehr als freundliche Gleichgültigkeiten zur Antwort bekommen. Marianne
Kepler. Ein vergessener Name. Und sie, Judith. Ein vergessenes Kind.
Man konnte
nur Kosmonaut werden. Oder ein Wanderer, der der eigenen Leere davonlief und
dessen einzige Freunde die Sterne waren. Judith hob den Kopf. Die rauen Rufe
der Jugendlichen echoten über die Hauswände. Sie klangen wie die Balzschreie
einer unbekannten, fleischfressenden Spezies. Gegenüber auf der anderen Seite
der Landsberger Allee lag ihre Wohnung. Sie brauchte Wein. Sie brauchte Musik.
Vor allem aber brauchte sie Gewissheit, was Borg mit dem schlafenden Monster
in ihr zu tun hatte.
Judith
schlug den Teppich zur Seite und kippte die Müllsäcke auf dem Fußboden aus.
Dann stieg sie, ein beschlagenes Glas Weißwein in der Hand, über die etwa
gleich hohen Haufen und setzte sich auf die Couch. Die Heimakte lag neben ihr.
Sie war versucht, sie wieder und wieder zu lesen. Aber erst musste sie
herausfinden, wer Borg war. Sie trank einen tiefen Schluck und betrachtete die
Dinge, die sie zum Reden bringen wollte.
Fricke
hatte recht. Viel war es nicht. Der eine Hügel bestand aus Kleidung. Nicht
teuer, nicht auffällig. H&M, Zara, Mango. Internationale Billigware, die
überall auf der Welt gekauft worden sein konnte. Modisch, mittleres Einkommen,
unauffällige Lebensweise. Keine Verwandten, hatte Fricke gesagt. Also war das
alles, was Borg besessen hatte. Vielleicht lag das eine oder andere noch in der
Asservatenkammer der Polizei, aber meist wurden nur Dinge wie Computer oder
Handys mitgenommen, private Sachen ließ man, nach gründlicher Durchsuchung und
wenn sie keine Beweismittel waren, vor Ort zurück.
Der andere
Hügel waren Gegenstände des täglichen Bedarfs und Hausmüll. Leere
Brötchentüten, ein paar ausgekratzte Joghurtbecher. Geschirrhandtücher.
Toilettenartikel, eine nachlässig zugedrehte Flasche mit Bodylotion war
ausgelaufen. Vielleicht kam der Lavendelgeruch daher. Geschirr - zwei Kaffeebecher,
einer davon benutzt, eine Müslischale, Teller, Besteck. Bücher. Der Stadtatlas
Berlin, ein Bildband über Rügen. Dan Brown, Da Vinci
koden. Anna Bovaller, Svärmaren. Pia Hagmar, Som i en dröm. Judith
blätterte in den Romanen. Im Copyright-Vermerk des Da Vinci
Codes fand sie den Hinweis Sverige. Schweden.
Judith
stopfte alles wieder in die Säcke zurück. Als sie die Bücher aufhob, fiel ihr
die Fernsehzeitschrift vor die Füße. Eine Zwei-Wochen-Postille, aufgeschlagen
am letzten Programmtag, dem heutigen Freitag. Sie überflog die bunten Bilder
und Sendezeiten und blieb im unteren Drittel hängen. Drei gegen
eins, die Talkshow mit Juliane Westerhoff.
Die Gäste:
Blablabla. Ein Name samt Foto war mit Kugelschreiber eingekreist. Quirin
Kaiserley, Exspion. Judith holte die Weinflasche aus dem Kühlschrank, schenkte
sich nach und ließ sich wieder auf das Sofa fallen. Sie blätterte die
Zeitschrift von vorne bis hinten durch. Borg hatte nur diese eine Sendung
markiert.
Wahrscheinlich
sah Borg gerne Talkshows oder war ein Fan der Westerhoff. Die Oprah Winfrey des
deutschen Fernsehens.
Sie kam
jede Woche, pünktlich wie die Maurer, und verkündete unermüdlich strahlend und
eisern entschlossen der Republik, welche finsteren Machenschaften sie
aufgedeckt hatte. Mit der Zeit ähnelten sich Sendungen und Themen, und man
bekam das unbestimmte Gefühl, alles schon einmal gehört zu haben. Weshalb
sollte man also eine Westerhoff-Sendung Wochen im Voraus markieren?
Sie
betrachtete noch einmal das Foto von Kaiserley. Er sah nicht unsympathisch aus.
Mehr wie ein intellektueller Harley-Davidson-Fahrer als ein Spion. Aber da sie
keine Ahnung hatte, wie Spione aussahen, und das allein schon für deren gute
Tarnung sprach, warf sie die Zeitschrift schließlich in den Müllsack und
betrachtete nachdenklich das wenige, das Borg offenbar aus Schweden mit nach
Deutschland gebracht hatte. So lange, bis ihr klarwurde, dass Schweden keine
deutschen
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