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Herrmann, Elisabeth

Herrmann, Elisabeth

Titel: Herrmann, Elisabeth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeugin der Toten
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Niemand in der Nähe. »Hier.«
    Er
betätigte den Öffner mit dem Ellenbogen und ging voran in einen empfindlich
kalten, gekachelten Raum.
    »Das hier
ist höchste Schutzzone.«
    Er wies
auf einen hellblauen Überhang, der neben dem Waschbecken an der Wand hing.
Judith streifte ihn über. Liepelt wartete, bis sie so weit war, dann holte er
tief Luft, warf einen Blick auf seine Armbanduhr und öffnete die zweite Tür.
    »Du willst
das wirklich?«
    Statt
einer Antwort schob sich Judith an ihm vorbei. Das Erste, was sie wahrnahm, war
die eisige Luft. Das große Thermometer am Regal gegenüber zeigte minus sechs
Grad. Dort lagerten die Leichen in vier Reihen übereinander, jede in einem
Fach auf einem Rollträger abgelegt und verpackt in weiße Plastiksäcke. Liepelt
schob die Tür hinter ihnen zu. Zwei Lebende unter gut vierzig Toten in der
Zwischenwelt.
    »Jetzt gib
endlich«, knurrte er.
    Sie
reichte ihm die Akte. Liepelt warf sie auf einen langen Rollwagen zur Linken
und verglich die Registriernummer mit den Schildern an den Regalen. Er bückte
sich, suchte den unteren Teil des Regals ab und ging dann weiter nach links,
sorgsam die Nummern vergleichend. Nach ein paar Schritten blieb er stehen. Er
gab Judith die Akte zurück, weil er den Rollwagen brauchte, ihn vor das Regal
ziehen und arretieren musste. Judith nutzte den Augenblick und steckte sie
wieder unter ihren Kittel. Liepelt zog einen Stahlträger heraus. Darauf lag
eine Tote. Mittelgroß, verpackt, registriert, abgelegt, unbeweint.
    Judiths
Haut prickelte. Entweder war es die Kälte, oder ihre Nerven spielten ihr einen
Streich. Sie wollte endlich die Frau sehen, die sich mit dem BND angelegt
hatte und an ihre Heimakte herangekommen war. Sie gab Liepelt ein Zeichen, und
er öffnete den Reißverschluss des Leichensacks.
    Langes,
braunes Haar quoll hervor. Judiths erster Blick fiel auf das Einschussloch in
der Stirn. Es sah aus wie eine exotische Tätowierung und verlieh der Toten das
Aussehen einer fremden, strengen Gottheit. Borg war keine schöne Frau. Dichte,
dunkle Augenbrauen, breite Wangenknochen, ein schmaler ernster Mund. Judith
fragte sich, ob diese Frau oft gelacht und wie sie dann wohl ausgesehen hatte.
Lachen veränderte die Menschen. Es zeigte für den Bruchteil einer Sekunde die
Seele. Offen und großzügig, kichernd und kindisch, oder hämisch und gemein.
Lachen war verräterisch. Deshalb lachte Judith auch nicht oft.
    Sie hatte
diese Frau noch nie in ihrem Leben gesehen. Und sie hätte sich an jemanden wie
Borg erinnert, denn selbst im Tod verriet ihr Gesicht noch etwas von der
Unbeugsamkeit und Kraft, die sie einmal besessen haben musste. So eine Frau
vergaß man nicht. Gefährlich für die, die nicht auf ihrer Seite standen. Es
versetzte Judith einen Stich, dass sie sich fremd waren und blieben.
    »Willst du
noch mehr?«
    Liepelt
klang ungeduldig. Judith schüttelte den Kopf. Direkt unterhalb des Kinns begann
die Naht. Alles Wichtige war im Obduktionsbericht nachzulesen. Sie hob die Hand
und legte sie auf Borgs Stirn, genau über das Einschussloch und die geschlossenen
Augen. Liepelt atmete pfeifend aus.
    »Bist du
verrückt? Du kannst sie doch nicht einfach anfassen!«
    Kälte. Wie
Marmor unter Eis. Judith fuhr mit den Fingerspitzen über Borgs Gesicht. »Wohin
kommt sie?«
    »Keine
Ahnung. Hat sich noch niemand gemeldet. Sobald die Bullen sie freigeben, sagen
wir Schneider Bescheid.«
    Gerhard
Schneider Bestattungen. So etwas wie der Platzhirsch der Beerdigungsunternehmer.
Er musste einen Deal mit sämtlichen Krankenhäusern und Staatsanwaltschaften der
Stadt haben, denn Schneider und seine Flotte waren immer und überall die
Ersten.
    »Krematorium,
schätze ich. Macht die Sache billig. Keine Angehörigen. Zumindest hat sich
niemand hier gemeldet. Hör mal, du kippst mir jetzt nicht um hier. Was ist denn
los auf einmal?«
    »Nichts«,
flüsterte Judith und atmete tief durch.
    Nichts.
Liepelt schloss den Reißverschluss. Sie schob Borgs Haar zurück, damit es sich
nicht verfing. Und damit jemand ein letztes Mal dieses Gesicht zärtlich
berührte, das nun hinter dem weißen Plastik verschwand. Keine Angehörigen. Und
die letzte Reise ging ins Krematorium, weil es die Sache billiger machte.
    Liepelt
schob Borg zurück ins Fach. Judith wartete, bis er die Bahre arretiert hatte.
Dann folgte sie ihm schweigend hinaus. Es war nichts, wirklich nichts. Nur dass
sie plötzlich einen Schmerz in ihrem Herzen spürte. Wo sie doch nicht einmal
gewusst

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