Herrmann, Elisabeth
dieser Wohnung passiert? Waren wir das?«
Kellermann
sah ihn lange an. Erst als Teetee nicht mehr damit rechnete, noch eine Antwort
zu bekommen, sagte er: »Ich habe keine Ahnung. Und soll ich dir was sagen? Ich
will es noch nicht einmal wissen.«
*
Judith
erreichte Sassnitz am späten Nachmittag. Dunkle Wolken ballten sich über der
Insel Rügen. Es war drückend schwül. Noch nicht einmal der Fahrtwind brachte
Abkühlung. Als sie in Höhe Hafen Mukran in einen Stau geriet, kochte die Luft
im Wagen. Gerade musste eine Fähre aus Klaipeda angekommen sein, denn LKW aus
Lettland krochen den Hügel hinauf, und hilflos umherirrende Wohnmobile
verstärkten das Chaos. Erst als sie von der B96 abbog, wurde es besser. Sie
überließ den anderen die ausgeschilderte Touristenroute ins Zentrum und bog
kurz nach der Ortseinfahrt rechts ab in ein schäbiges Wohngebiet mit halbherzig
oder gar nicht renovierten vierstöckigen Blocks.
Sassnitz.
Vor 1990 noch in der alten Schreibweise, mit Eszett. Hafenstadt.
Umschlagplatz. Sperrgebiet. Kein Jahrhundertwendecharme, keine nennenswerte
Kaiserbäderarchitektur. Schwer bewachter Transit für Touristen,
Wirtschaftsgüter und die Sowjetarmee. Danach irgendwie vergessen und zur Seite
gedrängt von protzenden Schönheiten wie Binz, Göhren und Sellin. Der Hafen
wurde zehn Kilometer weiter südlich neu errichtet, damit hatte die Stadt auch
noch ihren letzten Rest industrieller Daseinsberechtigung verloren. Was blieb,
war der Blick auf die Fähren, wenn sie weit draußen auf dem Meer vorüberzogen.
Judith
fuhr langsamer und betrachtete die heruntergekommenen Häuser. Am besten
erhalten waren die Garagenbaracken. Vielleicht war das eigene Auto ja das
Einzige, worum sich zu kümmern in dieser Ecke noch lohnte. Sie erinnerte sich
an die Samstagnachmittage, an denen Männer mit wiegenden Schritten ihre
Trabbis umrundet hatten, sich gegenseitig sachverständige Blicke zugeworfen
und Tipps ausgetauscht, an Motor und Auspuff herumgeschraubt hatten und ständig
mit Lappen über die Kotflügel gefahren waren.
Die Sonne
stahl sich durch eine schmale Wolkenlücke. Sie stand tief, und Judith sah in
der Ferne die Ostsee glitzern. Das Abendrot vergoldete für ein paar Minuten das
alte Hafengelände, die Strandpromenade und einen Teil der Steilküste, die nur
ein paar hundert Meter weiter mit ihrem Caspar-David-Friedrich-Blick die
Touristen weglockte. Vielleicht war das ja das Schicksal von Sassnitz: alles
immer haarscharf zu verpassen. Die ewige Durchgangsstation.
Rechts die
Bushaltestelle, eine graffitiverschmierte Ruine. Um ein Haar hätte Judith sie
verpasst. Dahinter die Straße der Jugend, kopfsteingepflastert und buckelig.
Nach einer scharfen S-Kurve führte sie durch den Wald hinunter bis zum Wasser.
Die alte Fischfabrik, ein riesiges, verkommenes Areal, nur noch dafür gut,
Sperrmüll zu entsorgen. Und dann, Judiths Hände verkrampften sich um das
Lenkrad, und sie bremste unwillkürlich auf Schrittgeschwindigkeit ab, links und
rechts die hohen Häuser aus braunem Backstein. Sie ließ den Wagen am
Straßenrand ausrollen.
Eine fast
geisterhafte Ruhe lag über dem ganzen Gelände. Es wirkte wie ausgestorben,
trotz der neuen Fenster und einer Gegensprechanlage, auf der Haus
Waldfrieden stand. Judith ignorierte die Klingel. Das Tor ließ sich
ohne Probleme öffnen - der erste und vielleicht sogar wichtigste Unterschied zu
der Zeit, in der noch Kinder- und Erziehungsheim Juri
Gagarin auf dem Schild gestanden hatte. Sie ging nicht auf den
Haupteingang zu, sondern wandte sich nach links, wo das Gelände in sanften Wellen
hinabfiel bis zum Waldrand.
Die
Spielgeräte machten einen neuen Eindruck, auch die Bänke und der Sandkasten
sahen ordentlich aus. Langsam ging sie weiter bis zur Grundstücksgrenze. Der
Zaun war hoch, aber der Stacheldraht war weg. Nur die Betonstelen mit den abgeknickten
Enden waren dieselben, aber sie hatten ihren Schrecken verloren und waren für
jeden, der die ernsthafte Absicht hatte abzuhauen, eher Kletterhilfe denn
Abschreckung. Ein Windstoß fuhr durch die Baumwipfel, Vorbote eines Gewitters.
Plötzlich hatte Judith das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie sah sich um, aber
das Haus wirkte immer noch still, abweisend und unbelebt. Ihre Erinnerung
spielte ihr einen Streich. Wer hier groß geworden war, fühlte sich ein Leben
lang beobachtet.
Sie atmete
den Duft von Wald und Meer ein, doch etwas Entscheidendes fehlte. Gerade
wollte sie wieder zum Haus hoch gehen,
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