Herrmann, Elisabeth
drin, und ein
Öltank. Frau Langgut hat dich rausgeschmissen. Warum?«
»Weil ich
nicht gefragt habe, ob ich kommen darf. Und so was tut man nicht.«
»Warum
wolltest du denn kommen?«
»Weil ich
jemanden von damals sprechen wollte. Also aus der Zeit, in der ich im Heim
war.«
»Warum?«
»Weil...
es mal so was wie mein Zuhause war.« Judiths Inneres sträubte sich, dieses
Wort auch nur annähernd mit einem Erziehungsheim in Verbindung zu bringen. »Ich
war zehn Jahre da.«
»Zehn
Jahre?« Chantal riss die Augen auf. Für sie ein Lebensalter. Eine Ewigkeit.
»Warum?«
»Weil
meine Mutter sich nicht mehr um mich kümmern konnte und gestorben ist.«
»Und dein
Vater?«
Judith
rauchte und beobachtete eine nasse Krähe, die suchend über eine herumliegende
alte Decke hüpfte.
»Ich hab
keinen«, antwortete sie schließlich.
Chantal
hatte schon wieder ein »Warum« auf der Zunge, behielt es aber dieses Mal für
sich. Sie fuhr mit den Plastikclogs über die geriffelte Oberfläche der
Laderampe.
»Da war
noch eine Frau von früher«, sagte sie. »Das war erst letzte Woche. Sie war
nachts im Haus und wurde erwischt, und sie hat geschrien, und da haben sie sie
abgeholt.«
»Wer?«,
fragte Judith.
»Ein
Krankenwagen. Mit Blaulicht.«
»Ich
meine, wer war die Frau?«
Chantal
hob die schmalen Schultern. »Keine Ahnung. Alt war sie. Und ganz schrecklich.
Sie hat Dreck genommen und damit das Haus beworfen und sich dann selber damit
eingeschmiert. Uah.« Chantal schüttelte sich.
»Weißt du,
wo man sie hingebracht hat?«
»Ins
Stasi-Heim.«
»Ins was?«
»Na dahin,
wo die Verbrecher hinkommen.«
»Du meinst
das Gefängnis.«
»Nein. Das
Stasi-Heim. Da sind lauter alte Leute.«
Judith
schnippte den Zigarettenstummel hinunter in das triefende Unkraut. Chantal
konnte nur ein Pflegeheim meinen oder ein Seniorenstift. Es gab keine
Stasi-Heime. Es gab ja auch keine Stasi mehr.
»Woher
weißt du, dass die Frau von früher war?«
»Sie ist
auch als Erstes zum Zaun. Genau wie du.« Der Regen hatte nachgelassen. Aus dem
Inneren der alten Lagerhalle drang ein dumpfer, muffiger Geruch. »Wo ist denn
dieses Heim?«
»Unten am
alten Hafen. Hinter den Gleisen. Früher haben wir da gespielt. Aber jetzt
dürfen wir nicht mehr ran. Alles ist abgesperrt, und nachts laufen Hunde da
frei rum.«
»Na, dann
ist es wohl besser, wenn du einen großen Bogen darum machst. Das ist
gefährlich.«
Judith
sprang von der Rampe. Chantal folgte ihr.
»Und hier
darfst du auch nicht spielen. Hast du das Schild vorne nicht gesehen?
Vorsicht!«
Sie riss
Chantal zur Seite, die gerade drauf und dran war, auf eine von Unkraut
überwucherte eiserne Bodenplatte zu treten.
»Da
drunter sind Löcher. Wenn du da reinfällst, kommst du nie wieder raus.«
»Okay.«
Chantal
sah nicht so aus, als ob sie sich diesen Rat zu Herzen nehmen würde. »Wie alt
bist du?«
»Zehn.«
Judith
lächelte. Mit zehn war man unsterblich.
Oben an
der Straße trennten sie sich. Chantal lief eilig das nasse Kopfsteinpflaster
hinunter, die Clogs wie festgewachsen an ihren Füßen und so leise auf ihren
Plastiksohlen, dass Frau Langgut bestimmt nicht hören würde, wenn sie sich
heimlich zurück in den trügerischen Waldfrieden schlich. Judith wartete einige
Minuten, bevor sie den Motor des Transporters anließ und den Wagen langsam den
Berg hinunter in Richtung alter Hafen rollen ließ.
Ein
Stasi-Heim. Erstaunlich, was Kinder sich aus geflüsterten Worten und Gerüchten
alles so zusammenreimten. Die Straße führte direkt in den Wald, machte eine
Kurve nach links und ging steil bergab. Entlang des Weges standen die Reste der
alten Sperranlagen. Betonstelen, Eisenplatten, Maschendrahtzaun. Bis hierhin
und nicht weiter. Vergessener Stacheldraht hing schlaff zwischen den
Pfahlkronen. Wieder erinnerte sie sich daran, dass der Hafen eines der am
besten bewachten Gebiete der Stadt gewesen war. Durch den Wald schimmerte das
Meer, grau wie die Wolkendecke, die über den Himmel zog. Immer noch klatschten
schwere Tropfen auf die Windschutzscheibe, aber sie kamen nicht vom Himmel,
sondern von den Baumwipfeln.
Der Weg
wurde noch holpriger und führte direkt auf die alten Kais zu. Judith passierte
ein verlassenes Wachhäuschen mit verrammelten Türen. Ein Schild an einem Betonpfeiler
trug die Aufschrift »Hafengrenze«. Sie rumpelte über Schlaglöcher und alte,
verrostete Gleise. Hier irgendwo musste es sein. Die Piste war nicht
asphaltiert, sondern aus großen Betonplatten
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