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Herrmann, Elisabeth

Herrmann, Elisabeth

Titel: Herrmann, Elisabeth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeugin der Toten
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da sah sie weit hinten, dort wo die
Lärchen fast in den Himmel wuchsen, eine Gestalt zwischen den Stämmen stehen.
Ein Mädchen, zehn oder zwölf Jahre alt, mit langen, blonden Haaren. Es schaute
zu ihr hinüber, und für einen kurzen, völlig irrationalen Moment begann Judiths
Herz zu hämmern. Das konnte nicht sein. Sie war ja verrückt. Eine
Halluzination. Eine zufällige Ähnlichkeit. Sie hatte wirklich geglaubt, sich
selbst zu sehen, nur weil das Mädchen helle Locken hatte. Die Kleine verschwand.
Judith setzte sich in Bewegung, erst langsam, dann rannte sie auf die Bäume zu,
sah noch einmal einen lichten Fleck im Unterholz aufblitzen - da kam jemand
eilig aus dem Haus zu ihr heruntergelaufen.
    »Hallo?
Sie da!«
    Sie blieb
stehen. Das Kind war verschwunden. Vielleicht war es auch nie da gewesen.
    »Was
machen Sie denn da?«
    Die Frau
war Anfang zwanzig, trug ein Kostüm und hohe Pumps, die für dieses Areal
denkbar ungeeignet waren. Ihr herzförmiges Gesicht war ungeschminkt, die
braunen Haare trug sie glatt und kinnlang geschnitten.
    »Suchen
Sie jemanden?«
    Zwei
Nächte fast ohne Schlaf und dann die Rückkehr in den Alptraum, der mit seinem
gestutzten Rasen und dem frisch gestrichenen Zaun so tat, als hätte er nie
existiert. Judith rieb sich mit der Hand über die Augen, blinzelte und
konzentrierte sich auf die junge Frau, die ein wenig außer Atem vor ihr stehen
blieb. »Wer sind Sie?«
    Die Frage
kam scharf und war eigentlich schon die verbale Vorbereitung darauf, Judith von
dem Gelände zu vertreiben.
    »Mein Name
ist Judith Kepler. Ich war als Kind hier.«
    »Ach so.«
Die Frau versuchte einen freundlicheren Gesichtsausdruck, der ihr aber nicht
besonders gut gelang. »Sie müssen sich anmelden. Sie brauchen einen Termin,
wenn Sie eine Führung wollen.«
    »Ich will
keine Führung.« Judith betrachtete ihr Gegenüber. Schon die ersten Worte hatten
gezeigt, dass diese Frau mehr verhinderte als ermöglichte. »Ich möchte wissen,
wer meine Heimakte nach draußen gegeben hat.«
    »Das muss
ein Irrtum sein. Wir geben keine Akten heraus.«
    »Ich habe
sie aber selbst in der Hand gehabt.«
    Judith
wusste nicht, was genau an dieser Antwort sie aggressiv machte. Vielleicht war
es das Lächeln. Ohne jede Anteilnahme, ohne die geringste Gefühlsregung. So
hatte Trenkner gelächelt, wenn sie zur Flasche mit der Seifenlauge griff.
Plötzlich fiel ihr ein, dass sie immer noch den blauen Kittel anhatte. Leute
redeten anders mit Menschen, die Kittel trugen.
    »Seit ich
volljährig bin, sagt man mir, meine Akte wäre geschreddert worden. Und
plötzlich ist sie wieder da. Aber nicht bei mir. Sondern bei wildfremden
Leuten. Das Haus Waldfrieden dürfte der Rechtsnachfolger von Juri Gagarin
sein. Also entweder erfahre ich jetzt, wie das passieren konnte, oder ich erstatte
Anzeige.«
    »Hm. Da
muss etwas wirklich schiefgelaufen sein. Wie schlimm für Sie!«
    Ihr
Gegenüber riss die Augen auf. Es wirkte etwas übertrieben und ungefähr genauso
echt wie das kühle Lächeln.
    »Das darf
natürlich nicht passieren. Aber ich kann da leider gar nichts für Sie tun.
Wenden Sie sich an das Kreisarchiv Rügen. Es gibt da den Bestand >Rat des
Bezirks< in der Abteilung Volksbildung und Jugendhilfe. Der Lesesaaldienst
hilft Ihnen sicher gerne weiter, auch zu Fragen von Aktenvorlegezeiten und ...«
    »Was glauben
Sie, was ich die letzten Jahre getan habe?«
    »Sie sind
hier falsch. Ganz falsch.« Die Frau streckte die Hand aus, um Judith am Arm mit
sich zu ziehen. Judith trat einen Schritt zurück.
    »Wo ist
Trenkner?«
    »Wer?«
    »Die
stellvertretende Heimleiterin von damals. Oder Martha Jonas, eine Erzieherin.
Trinklein, der Sportlehrer. Blum, Wagner, Stoltze. Wo sind sie alle hin? Die
Menschen, die Akten?«
    »Wir sind
ein freier Träger. Wir haben die Einrichtung vor zwölf Jahren übernommen. Die
Häuser standen leer. Von den ehemaligen Mitarbeitern ist niemand mehr da. Ich
muss Sie jetzt bitten zu gehen.«
    »Ich war
Drei Vier Fünf Zwo.« Die Wut verwandelte Judiths Stimme in ein heiseres
Flüstern. »Haus drei, Schlafsaal IV, Nummer 052.. Ich habe hier fast zehn Jahre
verbracht. Davon muss doch etwas übrig sein.«
    »Nein. Es
ist nichts übrig. Und wenn Sie nicht gehen, rufe ich die Polizei.«
    Sie zog
ein Handy heraus und wog es abwartend in der Hand. Sie sah aus, als sei sie
unangenehmen Besuch gewohnt und wusste, wie man sich wehren konnte. Das war
eine Sackgasse. Die Frau hatte tatsächlich von nichts eine Ahnung. Aber

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