Herrmann, Elisabeth
sie
hätte sich verdammt noch mal kundig machen können, was für ein Haus sie hier
verwaltete.
»Okay«,
sagte Judith. »Ich gehe. Aber ich komme wieder.«
»Mit einem
Termin. Nach Ihnen.«
Judith
lief den Rasen hoch bis zu einem kleinen Vorplatz. Hier hatten früher die
Fahnenappelle stattgefunden und die öffentlichen Bestrafungen all jener, die
sich nicht proletarisch genug entwickelten. Wieder fuhr eine Windbö über den
Platz und wirbelte Staub und ein paar verdorrte Blätter auf. Zwei Basketballkörbe
hingen an der Ziegelwand. Es war immer noch unnatürlich still.
»Wo sind
die Kinder?«, fragte Judith.
»Beim
Abendessen«, antwortete die Frau.
Es war
halb sechs.
Sie durfte
nicht aggressiv werden. Sie musste ihre Gefühle besser kontrollieren.
Judith
lief am Waldrand entlang. Der Wind frischte auf und schüttelte die Baumkronen.
Außer Atem erreichte sie das Areal der alten Fabrik. Aus schwarzen Wolken lösten
sich die ersten Tropfen. Sie klatschten auf die zerborstenen Wegplatten wie riesige,
tote Insekten. Sassnitz Fisch stand in
roten Lettern auf einem Schild, von dem die restliche Farbe längst abgeblättert
war. Die Schreibweise verriet, dass man zumindest noch ein paar Jahre nach der
Wende hier gearbeitet hatte.
Auf dem
mehrere Hektar großen Gelände, das langsam von der Natur zurückerobert wurde,
standen die verlassenen Fabrikgebäude. Produktion, Kühlhallen, Lagerhallen,
Räucherei. Keine einzige Fensterscheibe war heil geblieben. Sperrmüll stapelte
sich in ihrem Inneren fast bis zur Decke, die überwucherten Straßen und Wege
waren gesäumt vom Auswurf einer Stadt. Über dem Meer sammelte sich
Donnergrollen, das wie eine Warnung in Richtung Land geschickt wurde. Die
Tropfen fielen dichter. Plötzlich öffnete der Himmel seine Schleusen. Judith
rannte zur Lagerhalle IV und erreichte die Rampe mit dem Vordach. Prasselnde
Regenschauer drückten die Wipfel der Bäume nieder.
Sie lehnte
sich an die Wand, von der der Putz abblätterte, und holte ihr Tabakpäckchen
heraus. Hatte sie hier ihre erste Zigarette geraucht? Sie war vierzehn
gewesen. Alt genug, um nach der Schule zu arbeiten. Subbotnik, freiwilliger Arbeitseinsatz. Nach der Freiwilligkeit wurde nicht lange
gefragt. Dafür gab es Hering in Tomatensoße bis zum Abwinken. Die Arbeit hatte
ihr Spaß gemacht. Immer vierundzwanzig Dosen in einen Karton.
Warum es
genau vierundzwanzig sein mussten, wusste sie nicht. Vielleicht eine besondere
Art von Adventskalender. Seit damals hatte sie keine Fischkonserve mehr
angerührt. Sie drehte sich eine Zigarette. Als sie das Papierchen ableckte und
wieder hochsah, stand das Mädchen vor ihr.
Das Kind
trug ein weißes Sommerkleid und war klatschnass. Die Füße steckten in billigen,
grellrosa Plastikclogs, wie sie Urlauber kauften und zu Hause kopfschüttelnd
fortwarfen. Es stand vor der Laderampe, ließ sich vollregnen und sagte:
»Hallo.«
»Hallo«,
antwortete Judith.
Also war
es doch keine Halluzination gewesen. Die Kleine kletterte wie ein Wiesel die
Laderampe hoch und stellte sich neben Judith. Sie reichte ihr bis zur
Schulter. Ein schmales, hochgewachsenes Kind mit Sommersprossen und
unnatürlich heller Haut. Ein Fabelwesen, das in dieses Naturschauspiel von Wolkenbruch
und überwucherten Ruinen passte.
»Ich heiße
Judith.«
»Ich heiße
Chantal.«
Schantall.
Wer tat diesen Kindern nur diese Vornamen an.
»Du warst
mal im Heim?«, fragte das Kind. »Ich bin auch da.«
Judith
zündete sich ihre Zigarette an. Heimkinder waren in der Regel Schlimmeres
gewohnt als den Anblick von rauchenden Erwachsenen.
»Seit wann
denn?«, fragte Judith.
»Erst seit
ein paar Wochen. So lange, bis die vom Amt sagen, dass ich wieder nach Hause
kann. Mein Vater hat meine Mutter geschlagen. Und mich auch. Gucke.«
Sie schob
den Träger ihres Sommerkleides zur Seite. Judith erkannte kaum verheilte Narben
und Striemen auf der mageren Schulter.
»Scheiße«,
sagte Judith.
Das
Mädchen schob den Träger zurück. Es schien mit den Narben keine großen Probleme
zu haben. Zumindest nicht mit den sichtbaren.
»Und, wie
ist es da so?«
»Okay.
Wenn meine Mutter auch da sein könnte, sogar ganz gut.«
»Gibt es
den Keller noch?«
Überrascht
schaute das Kind Judith an. »Meinst du den mit den Fahrrädern?«
»Den
Kohlenkeller«, antwortete Judith. Jede Zeit hatte ihren eigenen Keller. Der
musste nicht immer tief unter der Erde sein.
»Die
heizen nicht mit Kohlen. Ich glaube, da ist jetzt eine Maschine
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