Herrmann, Elisabeth
naturellement.«
Das war absolut ausgeschlossen. So eine Aktion brauchte Zeit.
Vorbereitung. Musste bis ins letzte Detail geplant sein. Applebroog legte den
Köder aus, noch bevor es die Falle überhaupt gab.
»Wir lassen Sie nicht allein«, sagte Langhoff. »Wir werden Sie bei jedem
Schritt begleiten und auf Sie achten. Sie sind hier genau richtig. Aber wir
brauchen Sicherheiten. Informationen. Sagen Sie uns, was Sie über diese Kartei
wissen. Wir können nicht die Katze im Sack kaufen.«
Lindner sah hilfesuchend zu Applebroog. Der Stadtkommandant nickte ihm
zu. Er war wieder Charles. Ein gütiger Ratgeber, ein weiser Freund. Es war wie
in einem Schulungsfilm der siebziger Jahre. Offene Türen, aber sanfter Druck in
die richtige Richtung. Lindner holte tief Luft.
»Dreitausend insgesamt, versehen mit Nato-Top-Secret-Informationen, Klar-
und Decknamen, Einschätzungsnoten, verwaltungstechnischen Angaben, verfilmt von
der F1 6 der Abteilung
XII, Berlin.«
»Verfilmt?«, fragte Quirin.
Kellermann hob unwirsch die Hand. Er mochte Zwischenfragen nicht. »Warum
nur dreitausend? Wir wissen von sechzig-, siebzigtausend Vorgängen.«
»Ein Aktenvorgang bedeutet nicht zwingend, dass es sich bei der
betreffenden Person auch um einen Agenten handelt«, erklärte Lindner. »Wir
haben quasi die Spreu vom Weizen getrennt.«
Das war ungeheuerlich. Der größte anzunehmende Glücksfall. Quirin
schüttelte leicht den Kopf. Wie sollte ein Mann wie Lindner an solche
Informationen kommen. Unmöglich. Jemand musste im Innersten des MfS, im
Allerheiligsten, jede einzelne Karteikarte in die Hand nehmen, prüfen und
kopieren. Das ging vielleicht im Einwohnermeldeamt Poppenbüttel. Aber nicht im
Ministerium für Staatssicherheit der DDR.
»Wo?«, fragte Applebroog. »Wo tun sie das?«
»In Berlin. Normannenstraße, Haus sieben, zweites Zwischengeschoss.«
Quirin biss sich auf die Lippen, um nicht schon wieder
dazwischenzuplatzen. Das MfS verfilmte seine Agentenkartei. Das war neu. Die
Sicherheitsmaßnahmen mussten so gut wie unüberwindlich sein. Und da kam jemand
wie Lindner, ein Hemd, ein hübscher Junge, aber definitiv kein Spion, und
erklärte, er könne ihnen die Essenz des Bösen auf dem Silbertablett servieren.
Der Sergeant mit den weißen Handschuhen gesellte sich zu ihnen. Ungefragt
nahm er neben Applebroog Platz und zog dabei die messerscharfen Falten seiner
Hose gerade.
»Filme oder Jackets?«, fragte er.
»Filme.«
»Rollfilm? Planfilm?«
»In diesem Fall Rollfilm.«
»Fabrikat?«
»Orwo-DK 5, unperforiert,
sechzehn Millimeter.«
»Kamera?«
»Dokumentor-Aufnahme-Tischgerät von Carl Zeiss Jena.«
Es war so still, dass man hörte, wie das Wasser in den Holzscheiten im
Kamin verdampfte. Ein leises Zischen, das entfernt an das Pfeifen eines
Teekessels erinnerte. Der Sergeant sah zu Applebroog und nickte kaum merklich.
Es war das seltsamste Quiz, das Quirin jemals verfolgt hatte.
Der Stadtkommandant gab dem Sergeanten einen Wink. Der Mann stand auf,
ging hinüber zum Kamin und kam mit einer Kiste Cohibas wieder. Applebroog
öffnete sie und bot sie den Herren reihum an. Kellermann nahm eine, der Rest
lehnte dankend ab.
»Wer sind Sie?«, fragte Quirin.
Lindner sah ihn so überrascht an, als würde er erst in diesem Augenblick
bemerken, dass er mit den Amerikanern nicht allein war.
»Ich bin Feingerätemechaniker. Ich entwickle Kameras. Solche und solche.
Ich arbeite im Westen für eine Firma in Leverkusen und liefere Informationen
nach Ostberlin.« Er warf einen unsicheren Blick auf Kellermann.
»Selbstverständlich in enger Zusammenarbeit mit Ihrem Dienst. Darüber hinaus
war ich an der Entwicklung der Tischgeräte beteiligt.«
»Wie kommen Sie an die Filme?«
Lindners Adamsapfel hüpfte wieder. Vielleicht baute er gute Kameras.
Vielleicht für Agfa, vielleicht für Carl Zeiss Jena. Vielleicht sogar für das
MfS. Aber was dann unter Ausschluss der Öffentlichkeit in einem Stasi-Fotolabor
in Ostberlin unter höchsten Sicherheitsvorrichtungen mit ihnen gemacht wurde,
das konnte er nicht wissen. Quirin wäre am liebsten aufgestanden und gegangen.
Der Riesenfisch war eine Sardine. Der Mann hatte zwar Detailkenntnisse und
Zugang zu allen technischen Informationen. Aber die bekam man auch, wenn man
mit einer Levi's bei einer Studentin der Staatlichen Archivverwaltung Potsdam
aufkreuzte und sie um die eine oder andere Kopie einer Hausarbeit bat.
»Das kann ich nicht sagen«, flüsterte Lindner.
Applebroog zog
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