Herrmann, Elisabeth
Wechsel gegeben. Die Russen hatten in den letzten Jahren nicht viel Glück
gehabt mit ihren Staatslenkern. Andropow und Tschernenko waren gekommen und
gegangen, und vor kurzem hatte das Militär die nächste Marionette inthronisiert,
einen gewissen Gorbatschow, der wahrscheinlich auch nicht lange überleben
würde. Die USA nutzten das Gerangel, um die Russen ein bisschen zu piesacken.
Sie unterstützten irgendwelche Irren in Afghanistan, die ihre Besatzer gerne
aus dem Land gebombt hätten. Der Kalte Krieg flackerte ein wenig an den
Außengrenzen von Nato und Warschauer Pakt auf, darüber hinaus war er in eine
Phase gelangweilter Stagnation eingetreten. Nichts bewegte sich, nicht zum
Guten, aber glücklicherweise auch nicht zum Schlechten.
»Für ihn,
meine ich. Er ist angeblich auf einem Kongress«, sagte Kellermann und wies mit
dem angebissenen Brötchen auf Lindner. »Fliegt heute Abend noch zurück nach
Budapest. Wenn Applebroog mitmacht. Was sagt denn die Lage?«
Angelina
hob die zarten Schultern. »Ich möchte dem Stadtkommandanten nicht vorgreifen.
Aber die Maschine steht in Tempelhof bereit.«
Lindner
wirkte wie jemand, dem schon beim Gedanken ans Fliegen schlecht wurde. Quirin
überlegte, ob er ein Perspektivagent aus dem Osten war, ein Counterman oder ein Überläufer. Der Hinweis, dass er noch in der Nacht zurück
nach Budapest fliegen würde, ließ den Überläufer ausscheiden. Für einen Counterman, also einen umgedrehten Spion, war er zu unerfahren. Blieb der
Perspektivagent: ein Mann, den man im Machtzentrum des Gegners einsetzen und
hochspielen wollte. Wahrscheinlich wusste Lindner gar nicht, auf was er sich
eingelassen hatte.
»Meine
Herrschaften?« Der Sergeant mit den weißen Handschuhen kehrte zurück. Die MP
an der Tür nahm Haltung an. »The Commandant, United States
Commander Berlin and Commander, US Army Berlin, General Charles
Henri Applebroog.«
Der
Sergeant war noch nicht ganz fertig, da kam Applebroog, ein Glas Punsch in der
Hand, zur Tür herein. Er war ein freundlich wirkender, mittelgroßer Mann, dem
die Uniform genauso gut stand wie ein Smoking. Ein diplomatisch begabter
Militär - eine Kombination, die sich Quirin häufiger an den entscheidenden
Stellen wünschte. Als der einflussreichste der Stadtkommandanten Berlins
bestimmte überwiegend er, was den Drei-Mächte-Status im Westteil betraf, tat es
aber mit wohltuender Zurückhaltung und auf eine Weise, dass die Berliner
glauben durften, tatsächlich noch von ihrem Regierenden Bürgermeister regiert
zu werden. Wahrscheinlich stand der gerade einen Stock über ihnen und plauderte
mit den Briten über das Tempolimit auf der Stadtautobahn.
»Nicht
doch, lassen wir die Formalitäten. Ich bin Charles.«
Er
schüttelte Lindners Hand. Quirin unterdrückte ein Grinsen bei dem Gedanken,
der völlig verschüchterte Lindner würde Applebroog tatsächlich mit Vornamen
anreden. Das traute sich noch nicht mal Kellermann nach dem vierten Drink.
Applebroog
wandte sich an jeden Einzelnen, begrüßte alle mit Handschlag und bat die Runde
schließlich, es sich in den Sesseln bequem zu machen.
»Lindner«,
sagte er. »Wo kommen Sie her?«
»Gnevezin.
Bei Anklam. In Mecklenburg.«
Weder der
Stadtkommandant noch die versammelte Geheimdienstelite schien schon einmal von
Gnevezin gehört zu haben. Applebroog nickte trotzdem freundlich. Er wandte sich
an Kellermann.
»Der junge
Mann möchte mit uns zusammenarbeiten?«
Der junge
Mann schluckte. Sein Adamsapfel hüpfte den Hals hinauf. Quirin fragte sich,
warum man ihn ohne Vorbereitung in die Höhle des Löwen geschickt hatte. Denn dass
Lindner den abhörsicheren Keller der Dienstvilla für genau das hielt, war ihm
anzusehen.
Kellermann
nickte dem Gast wohlwollend zu. »Er ist der Überbringer eines Angebots, das man
nicht ausschlagen kann, wie der Italiener sagen würde.«
Er sah
beifallheischend in die Runde. Alle schwiegen. Quirin fragte sich, wie lange
sich jemand mit so vielen Problemen eigentlich in einer leitenden Position beim
Dienst noch halten konnte. Die Ehe kaputt, der Alkohol, und das Reihenendhaus
im Münchner Stadtteil Fasanengarten viel zu teuer, selbst für einen
Abteilungsleiter. Kellermann fehlte ein Coup. Etwas, das seine Karriere und
sein Leben wieder in Schwung bringen könnte. Er war nur zehn Jahre älter als
Quirin, aber er sah aus, als hätte er schon drei Leben gelebt.
Lindner
sah zu Boden. Aus ihm war im Moment nichts herauszubekommen. Langhoff knetete
schon die ganze
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