Herrmann, Elisabeth
D.«
Quirin hielt einen Augenblick inne. Der Aufbau des Verfassungsschutzes in
den neuen Ländern. Kresnick, aus Wiesbaden nach Mecklenburg geschickt in diesen
verrückten Jahren, ein Pedant im Kopf und ein Cowboy im Herzen. Er hatte ihm
den Tipp gegeben.
»Es gab in dieser Nacht, als die Übergabe der Mikrofilme passieren sollte,
einen Zwischenfall in Sassnitz. Was genau geschehen ist, weiß ich nicht, denn
den Inhalt der Meldung kenne ich nicht. Ich weiß nur, dass jemand die CIA
informiert hat. Es war eine Meldung der Sicherheitsstufe III. HumInt red mit Weiterleitung an befreundete Dienste.«
Quirin nahm Teetee ins Visier. »Hast du das verstanden? Begreifst du das?
In Pullach hätten die Alarmglocken klingeln müssen! Weiterleitung, sofort. Human
Intelligence, rot. Das bedeutet: Eine Aktion
ist aufgeflogen. Wir hätten uns sofort darum kümmern müssen. Lindner war in
dieser Nacht Bundesbürger. Alle drei standen unter alliiertem Schutz!
Vielleicht hätten wir sie noch retten können! Einen von ihnen wenigstens! HumInt red
- das heißt, ein CIA-Agent hat jemanden
versteckt, ist jemandem begegnet, kennt das Versteck von jemandem, den wir unbedingt
rausholen müssen. Sofortige Kontaktaufnahme!«
Teetee sah sich um, aber der Geräuschpegel war immer noch so hoch, dass
Quirins Ausbruch nicht weiter beachtet wurde.
»Ja meine Güte. Warum habt ihr es dann nicht getan?«
»Wir wussten nichts davon. Die Meldung wurde unterschlagen.«
Teetee sah Quirin lange an. Dann trank er sein Weißbier aus. Er wischte
sich den Mund ab und suchte in seiner Tasche nach Kleingeld, um zu zahlen. Er
verstand nicht.
»Und diesen Menschen suche ich, Teetee«, sagte Quirin leise. »Der diese
Meldung unterschlagen hat. Seit fünfundzwanzig Jahren. Er hat die drei auf dem
Gewissen. Er hat auch uns verraten. Und als ein Hilferuf kam, hat er auch ihn
vernichtet. Vor ein paar Tagen glaubte ich, ich hätte noch einmal eine Chance.
Doch die Frau, die mir hätte helfen können, wurde in Berlin ermordet. Vor
deinen Augen, Teetee. Es waren deine Kameras, die das gefilmt haben.«
Quirin wandte sich ab und starrte auf die Isar.
»Applebroog, Kellermann, Espinoza, Lindner, Langhoff, ich. Einer von uns
ist der Maulwurf.«
Er hörte, wie Teetee ein paar Münzen auf den Tisch legte und aufstand.
Quirin hob die Hand zum Abschied, sah ihn aber nicht an. Es war sinnlos.
»Soll ich ihn einpacken lassen?«
Teetee deutete auf den Brotzeitteller, der immer noch unberührt auf dem
Tisch stand. »Nein«, sagte Quirin.
»Dann komm jetzt. Ich kann das Überwachungsmaterial nicht für dich
knacken. Aber ich werde ein Mal für dich in mein schlaues Büchlein schauen. Und
dann nimmermehr.«
Teetee drehte sich um und ging. Quirin sprang auf und eilte ihm hinterher.
Judith beugte sich noch näher zu Martha Jonas' Mund. Es war fast dunkel im
Zimmer. Die letzten Minuten war die Stimme der alten Frau immer leiser
geworden. Nun schien ihr Atem erschöpft. Die Worte wurden so undeutlich, dass
Judith sie kaum noch verstand. Martha Jonas hatte eine ungeheuerliche Geschichte
erzählt. Eine, in der zwei Kinder vertauscht wurden. Das eine Mädchen
verschwand, das andere musste seinen Platz einnehmen. Und wenn diese Geschichte
stimmte, dann war das einzig echte an Judiths Akte ihr Foto.
Judith hörte zu und speicherte diese Informationen, aber sie bewertete sie
nicht. Noch nicht. Sie sog jedes Wort in sich auf, aber sie dachte nicht
darüber nach. Denken konnte sie später. Sobald sie dieses Haus verlassen hatte.
Aber nicht jetzt. Jetzt zählte jede Sekunde.
»All die Jahre glaubte ich, sie holen dich.« Martha holte tief Luft, doch
ihre Kräfte waren am Ende.
»Wer?« Judith erstarrte. »Meine Eltern?«
»Nein, Christel. Du hast keine Eltern mehr. Deine Mutter...«
»Wo ist sie? Was ist mit ihr passiert?«
»Christel, dein einziger Schutz war zu vergessen.«
»Was vergessen?«
Panik kroch in Judith hoch. Gleich würde Martha Jonas einschlafen, so
erschöpft, krank und müde sah sie aus. Aber das durfte sie nicht. Sie musste erzählen.
Alles erzählen von dieser Nacht.
»Was sollte ich vergessen? Martha! Sag es mir! Wie bin ich ins Heim
gekommen? Wer war meine Mutter? Was ist passiert, um Gottes willen?«
»Gottes Wille ist nicht in Lenins Palast.«
»Was?«
»Alles, was ich tun konnte, habe ich getan.«
Judith streichelte Martha Jonas' Hand. »Ich weiß, ich weiß.«
»Ich habe deine Akte versteckt, im Fotorahmen von Juri Gagarin. Auf
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