Herrmann, Elisabeth
hatten.
Judith hetzte den Zaun entlang. Fast wäre sie auf den Gummisohlen ihrer
Turnschuhe ausgerutscht. Sie fing sich gerade noch. Was bei Tag wie ein
nachlässig gesichertes Grundstück mit grüner Grenze aussah, entpuppte sich nun
als bestens abgesichertes Terrain. Die Hunde kamen näher, sprangen den Hang hinab
und verteilten sich. Sie wollte den Maschendrahtzaun hochklettern, aber er war
nicht stabil genug. Um die Spitzen der Betonpfeiler ringelte sich Stacheldraht.
Judith biss die Zähne zusammen, nahm Anlauf und sprang. Sie krallte sich
an dem Pfeiler fest und griff in die Dornen. Schmerz raste wie Feuer in ihre
Hände, aber sie ließ nicht los. Sie zog sich nach oben. Ein Dobermann schoss
aus dem Unterholz auf sie zu. Sie warf das rechte Bein über die Drahtrolle,
Stoff riss, noch mehr Dornen bohrten sich in ihre Haut. Aus der Kehle des
Hundes drang ein gieriges Grollen. Er knurrte und sprang, um nach ihrem linken
Bein zu schnappen. Sie holte aus und traf das Tier mit ihrem Fuß direkt auf die
Schnauze. Der Hund jaulte auf. Zwei weitere Schatten flogen wie Pfeile aus dem
Dickicht - noch mehr Hunde. Rufe von oben. Heiseres Geschrei. Panik. Schmerz.
Adrenalin. Jedes für sich ein Aufputschmittel, sie peitschten Judith über die
Kimme des Zauns, genau in dem Moment, in dem die Hunde völlig entfesselt
hochsprangen und die erste dunkle Gestalt durch das Dickicht brach. »Stehen
bleiben!«
Judith sprang. Sie kam glücklich auf, stolperte, rannte davon. »Sie da!
Halt!«
Sie stürmte nach links über die geborstenen Betonplatten der alten
Hafenstraße. Das Gatter nahm sie mit einem Sprung, stützte sich dabei mit den
Händen ab, spürte den Schmerz, der bis in den Nacken jagte, landete auf der
anderen Seite und rannte, wie sie noch nie gerannt war.
Die Rufe wurden leiser.
Die Lagerhallen kamen in Sicht. Sie fiel in einen langsameren Trab. Ihre
Lungen brannten, ihr Herz pumpte das Blut in treibenden Schlägen durch den
Körper. Sie betrachtete ihre Hände und fragte sich, ob sie es wohl schaffen
würde, ein Lenkrad zu halten.
Bei der ersten Gelegenheit bog sie links ab und erreichte das Gelände der
alten Fischfabrik. Sie versteckte sich in der ehemaligen Manufaktur, in der
nur noch die braunen Kacheln an den Wänden daran erinnerten, dass hier einmal
am Laufband im Akkord Fische sortiert worden waren. Hinter einer versifften
Couchgarnitur mit aufgeplatztem Polster verkroch sie sich und wartete. Als eine
halbe Stunde vergangen war und die einzigen Lebewesen, die auftauchten, ein
paar verstörte Ratten waren, stand sie auf und verließ die Halle.
Am sommerhellen Himmel stand ein weißer, fetter Mond. Sie schlug sich über
Trampelpfade durch bis zu der großen Brache, die hinauf zur Straße des Friedens
führte. Am Rand standen die Fuhrpark-Baracken, halb in sich zusammengefallene
Holzschuppen. In einem von ihnen hatte sie den Transporter versteckt.
Als Erstes desinfizierte und verband sie ihre Hände. Dann stieg sie auf
die Pritsche und öffnete die Holzverkleidung, hinter der die Jungens ihre
Zigaretten aus Polen schmuggelten. Der Untersuchungsbericht war noch da. Sie
schraubte die Verkleidung wieder zu und schob den Werkzeugkasten davor. Dann
setzte sie sich auf die Ladefläche, rauchte eine Zigarette und gestattete
sich, mit dem Nachdenken anzufangen.
Sie war nicht Judith Kepler. Sie war Christel Sonnenberg. Christel.
Christina. Sie schloss die Augen und versuchte, sich an das zu erinnern, was
dieser Name in ihr ausgelöst hatte, als sie ihn aus Martha Jonas' Mund gehört
hatte. Sonnenberg. Schock. Heiße Freude. Schwarzes Nichts. Sie flüsterte den
Namen. Sie sprach ihn laut. Sie wiederholte ihn, als wäre er eine Beschwörungsformel,
ein Voodoo-Zauber, der plötzlich den Vorhang zerreißen würde, der zwischen ihr
und ihrer Vergangenheit zugezogen worden war. Aber Worte halfen nicht mehr.
Und Nachdenken erst recht nicht.
Judith sprang auf, warf die Pritschentüren zu und setzte sich ans Steuer.
Sie startete den Motor. Hinterrücks preschte sie aus dem Unterstand, bremste
scharf, wendete, gab Gas und trieb den Wagen wie ein bockiges Pferd über das
Gelände. Mit einem hässlichen Knirschen schleifte sie die Bordsteinkante und
setzte hart auf der Straße auf. Sie jagte die Gänge ins Getriebe und ließ die
Wohnblocks hinter sich und das alte Hafenviertel, erreichte die Stralsunder
Straße, hörte das empörte Hupen, als sie jemandem die Vorfahrt nahm, kam ans
andere Ende der Stadt und erreichte
Weitere Kostenlose Bücher