Herrmann, Elisabeth
kommen Sie denn darauf?«
»Ich war auf dem Friedhof in Sassnitz und habe gesehen, was Sie
angerichtet haben. Das macht man nur, wenn man eine wirklich hohe Rechnung
offen hat. Ich glaube, bis zu jener Nacht hießen Sie ganz anders. Sie wissen,
wie?«
Judith nickte widerwillig.
»Ihre Mutter hieß Irene Sonnenberg. Sie war Fotolaborantin. Ihr Vater hieß
Richard. Er war ...« Kaiserley zögerte einen Moment, bevor er fortfuhr. »...
ein Agent der Auslandsaufklärung. Er arbeitete für die Stasi in der BRD unter
dem Namen Lindner. Ihre Eltern wollten ein neues Leben anfangen, aber sie
hatten mit diesem Hintergrund nicht den Hauch einer Chance, die DDR auf legalem
Weg zu verlassen. Also boten Sie uns die Namensliste an.«
»Hochverrat.«
»Für die Stasi, ja.«
Judith presste die Lippen zusammen. Es gefiel ihr nicht, was Kaiserley
erzählte, aber sie glaubte auch nicht, dass er log. »Wie war sie?«
»Ich habe sie nie kennengelernt.«
»Und mein Vater, dieser ... Doppelagent?«
Sie spuckte das letzte Wort geradezu aus. Kaiserley musste spüren, wie ihr
zumute war, denn er hob die Hand, um sie zu berühren. Gerade noch rechtzeitig
zog er sie wieder zurück. »Er war ein anständiger Mensch.«
»Er hat mich und sie und sich in Lebensgefahr gebracht! Ich habe zehn
Jahre in diesem Heim verbracht. Zehn Jahre!«
»Ich weiß.«
»Sie wissen gar nichts, Kaiserley. Gar nichts.«
Kaiserley biss sich auf die Unterlippe. Sie durften den harmonischen
Eindruck, um den sie sich gerade noch so bemüht hatten, nicht zerstören.
»Irgendwann hab ich geglaubt, was sie mir erzählt haben«, sagte sie leise.
»Deine Mutter war eine aus der Bachstraße. Dein Vater einer ihrer Freier. Und
jedes Mal, wenn ich mich gewehrt habe, bekam ich eins auf die Schnauze. Mit
zwölf bin ich zum ersten Mal abgehauen. Mit sechzehn war ich eine ohne festen
Wohnsitz.«
Sie zupfte wieder an ihren Ärmeln herum.
»Kommen die Narben aus dieser Zeit?«
Sie nickte zögernd. »Aus dieser und aus den Jahren danach. Man kriegt
nicht so schnell die Kurve. Man braucht die Frage Knast oder Therapie.«
»Und Sie sind in die Therapie gegangen.«
»Drei Mal Knast, ein Dutzend Entzüge. Ich hab sie nicht gezählt. Dann kam
Synanon. Und dann Dombrowski. Und dann ... dann hab ich geglaubt, ich hätte es
geschafft. Dass ich klarkomme mit dem, was ich bin. Und auf einmal...«
Sie brach ab.
»Judith, sind Sie hier, weil Sie herausfinden wollen, ob Ihre Mutter es
doch nach Schweden geschafft hat?«
Sie blinzelte und schaute in die andere Richtung. »Vielleicht.«
»Das ist eine Illusion.«
»Ach ja? Was waren dann meine letzten fünfundzwanzig Jahre?«
»Und selbst wenn sie es geschafft hätte - eine Frau, die sich mit einem
fremden Kind und unseren Pässen absetzt? Und die nie wieder etwas von sich
hören lässt? Das ist ein Ungeheuer. Aber keine Mutter.«
Judith spürte tief in ihrem Inneren einen brennenden Stich. So weit hatte
sie noch gar nicht gedacht. Bisher hatte sie nur eines vorangetrieben: jemanden
zu finden, der ihr erklären konnte, was wirklich geschehen war. Und ja, für
einen Moment hatte sie diese heiße, wahnsinnige Hoffnung gespürt, dass jemand
von ihrer Familie übrig geblieben war.
Ein Ungeheuer. Heimkinder hatten des Öfteren Verwandte dieser Art. Nur wer
so aufgewachsen war, konnte verstehen, dass ein Ungeheuer immer noch besser war
als nichts.
»Christina Borg hat mein Leben gelebt«, sagte sie leise. »Sie hat es
herausgefunden und wollte mit mir Kontakt aufnehmen. Sie ist als Kind an meiner
Stelle nach Schweden gekommen. Sie hat es ja wohl nicht alleine geschafft,
oder? Sie war genauso alt wie ich. Also war jemand bei ihr. Eine Frau. Ihre
Mutter. Meine Mutter. Aber auf keinen Fall die, die in Sassnitz begraben wurde.
Was ist damals passiert?«
»Irene Sonnenberg bestieg mit Ihnen in Berlin-Lichtenberg den
internationalen Schnellzug der DDR Berlin-Malmö. Sie wollten in Sassnitz mit
Hilfe eines schwedischen Schaffners in unser Abteil kommen. Sie hatte angeblich
den Schlüssel für das Depot der Filme bei sich. Eine Mitarbeiterin der CIA
hatte den Auftrag, das Depot in Sassnitz zu checken und grünes Licht zu geben.
Sie hätten dann die Pässe bekommen. Das alles hätte innerhalb der einen Stunde
Aufenthalt im Bahnhof über die Bühne gehen sollen. So war der Plan.«
»Ein Scheißplan. Seit wann konnten DDR-Bürger einfach so in einen Zug nach
Malmö steigen?«
»Einfach so natürlich nicht. Lindner und ich gingen im
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