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Herrmann, Elisabeth

Herrmann, Elisabeth

Titel: Herrmann, Elisabeth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeugin der Toten
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Bahnhof Zoo an
Bord eines Kurswagens. Der wurde in Berlin-Ostbahnhof an den Sassnitz-Express
angehängt und blieb verschlossen. Westberliner und DDR-Bürger fuhren zwar in
einem Zug, aber auf Rügen trennten sich die Wege. Der Kurswagen wurde abgehängt
und auf die Fähre nach Trelleborg weitergeleitet, die restlichen Wagen fuhren
nach Bergen. Das ganze Procedere dauerte wegen der Grenzkontrollen mindestens
eine Stunde. In dieser Zeit sollte Ihre Mutter eigentlich aus dem
Reichsbahn-Waggon in den Kurswagen geschleust werden.«
    »Und?«, flüsterte Judith mit pochendem Herzen. »Was ist schiefgelaufen?«
    »Sie und Ihre Mutter wurden aus dem Zug geholt und verschwanden. Ihr
Vater wurde unruhig. Die Zeit drängte. Für mich war die Aktion damit gelaufen.
Wir konnten froh sein, wenn wir mit heiler Haut den Hafen und die Fähre nach
Malmö erwischten. Aber plötzlich glaubte Lindner, Sie und Ihre Mutter in der
Bahnhofshalle zu sehen. Er wollte aussteigen und zu Ihnen. Vielleicht war es
Ihnen ja gelungen, die PKE in die Irre zu führen. Vielleicht hatten Sie noch
eine Chance.«
    »Die PKE?«
    »Passkontrolleinheit. Wir befanden uns im Sperrgebiet. Ich habe versucht,
ihn zurückzuhalten, aber er war wie ein Wahnsinniger. Er wollte bei Ihnen
sein, egal, was passieren würde. Er bat mich um die Pässe. Er sagte, wenn Sie
sich als Bundesbürger ausweisen würden, die auf dem Transit eine Autopanne
gehabt hätten, hätten sie vielleicht noch eine Chance. Ich sagte ihm...«
    Kaiserley brach ab.
    »Was? Was sagten Sie ihm?«
    »Keine Pässe ohne die Mikrofilme.«
    Judith sah ihn lange an.
    »Sie absolut mieses, dreckiges, gottloses Schwein.«
    Judith hätte ihm am liebsten auch einen Feuerlöscher ins Gesicht
geschlagen. Ihn zu Boden gezerrt und auf ihn eingeprügelt. Ihn getreten,
geschlagen, ihm jeden einzelnen Knochen gebrochen.
    »Sie haben recht«, sagte er leise. »Aber es ging um die Interessen des
Landes.«
    »Hören Sie auf, wenn Sie nicht wollen, dass ich Ihnen die Fresse poliere.«
    »Judith, ich habe seitdem ...«
    »Schnauze!« Die anderen Gäste schreckten hoch und sahen zu ihnen hinüber.
Sie senkte die Stimme. »Es gibt keine Rechtfertigung. Nichts. Sie haben uns
ans Messer geliefert.« Sie wollte aufstehen, loslaufen, rennen, schreien. »Was
ist mit meinem Vater passiert?«, fragte sie mit heiserer Stimme. »Sehen Sie
diese Narbe hier?«
    Er deutete auf seine rechte Schläfe. Ein heller, kaum sichtbarer Strich
zog sich von der Stirn bis in den Haaransatz.
    »Das war der Notfallhammer. Ich wachte erst eine Stunde später auf, da war
der Zug schon auf der Fähre. Lindner war weg, und mit ihm die Pässe.«
    »Haben Sie nie versucht herauszufinden, was aus uns geworden ist?«
    »Natürlich. Familie Sonnenberg hatte auf dem Weg in den Urlaub in Rumänien
einen Autounfall. Alle tot.«
    »Rumänien. Warum Rumänien?«
    »Es hätte auch der Ural sein können. Um Menschen aus den Melderegistern
der DDR zu entfernen, bot sich damals so ziemlich jedes Land im Ostblock an.
Man hat euch einfach gelöscht.«
    »Delete«, sagte Judith.
    Kaiserley nickte.
    Judith blinzelte ins Licht. Die Wut und der Hass machten sich klein, etwas
Unfassbares, nie Gekanntes breitete sich in ihr aus. Schüchtern und zart,
bereit, sofort wieder in der Leere zu verschwinden und sich aufzulösen in
nichts.
    »Der Mann ... mein Vater ... er wusste, dass er vielleicht stirbt, wenn er
den Zug verlässt?«
    »Ich glaube, ja.«
    »Und meine Mutter?«
    »Ich weiß es nicht. Ihre Eltern haben sich ein neues Leben gewünscht. Es
ging ihnen nicht ums Geld. Sie hätten fünftausend Mark Starthilfe bekommen. Die
Mikrofilme waren mindestens eine Million wert.«
    Eltern. Ihre Eltern. Welch ein Unterschied zu Vater unbekannt und Mutter
asozial. Das Gefühl kletterte ihre Kehle hoch, setzte sich fest und schnürte
ihr beinahe die Luft ab. Es hatte zwei Menschen gegeben, die für sie gesorgt
und die sie geliebt hatten. Das war so unendlich mehr als alles, was sie sich
von dieser Reise erhofft hatte. Es war so groß, dass es gar keinen Platz mehr
finden konnte, weder in ihrem Kopf noch in ihrem Herzen.
    »Er hat noch nicht mal die fünftausend mitgenommen. Judith? Oder soll ich
Sie Christina nennen?«
    »Nein.«
    Judith sah an ihm vorbei zu dem Geldautomaten. Ein junger Mann stand davor
und hatte entweder seine PIN vergessen oder das Konto überzogen. Er blickte
ratlos auf den Monitor und tippte von Zeit zu Zeit ohne Erfolg auf der Tastatur
herum.
    »Haben Sie

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