Herrmann, Elisabeth
irgendeine Erinnerung an die Zeit vor dem Heim?«
»Nein.«
»Einen Namen? Eine Szene, ein Bild? Irgendetwas? Sie sind die einzige
Zeugin, Sie waren damals am Bahnhof.« Gold. Klirrendes, glitzerndes Glas.
»Lenin«, sagte sie. »Was?«
Judith fuhr sich mit der Hand über die Augen.
»Judith, erinnern Sie sich. Es muss doch etwas übrig geblieben sein, auch
wenn Sie damals erst fünf Jahre alt waren. Erfahrungen, Bilder oder Gefühle.«
Sie öffnete den Mund, wollte etwas sagen, doch dann merkte sie, dass sie
dafür keine Worte hatte. Es war keine Mauer, vor der sie kapitulierte. Es war
schlimmer. Sie selbst war die Wand.
Sie hielt seinem fragenden Blick stand, so lange, bis er sich enttäuscht
abwandte.
»Ich bringe Sie jetzt an einen sicheren Ort und mache allein weiter.«
Sie musste zur deutschen Kirche. Dort würde man wissen, was aus Borgs
Mutter geworden war. Irgendjemand in dieser Stadt musste sie gekannt haben. Man
lebte nicht ein Vierteljahrhundert in einem Land, ohne Spuren zu hinterlassen.
Vielleicht war doch ein Wunder geschehen auf dem Bahnhof von Sassnitz ...
»Hören Sie mir zu?«
»Ja.«
Vielleicht würde sie ein Ungeheuer finden. Vielleicht aber auch nur einen
Menschen, der all die Jahre auf sie gewartet hatte. Der auch belogen worden
war. Der gar nicht wusste, dass es sie noch gab. Der sich an das Mädchen
erinnern würde, das sie einmal gewesen war. Der einen Stein aus der Mauer
schlagen konnte. Der sie erkennen würde.
»Hören Sie? Judith?«
Sie schreckte hoch.
»Borg ist tot. Was auch immer Sie gerade gedacht haben, Borg hat
vielleicht Ihr Leben gelebt.« Kaiserley sah sie an, und seine Augen
verdunkelten sich, als ob ihr Schmerz ihn tatsächlich berühren würde. »Aber
sie ist auch Ihren Tod gestorben.«
Teetee wusste, dass er es nie zu einem eigenen Haus bringen würde. Er
gehörte nicht zu den Menschen, die sich für dreißig Jahre verschuldeten und
kasteiten, um sich dann in einer Reihenhaussiedlung wiederzufinden. Er gab
sein Geld lieber für Reisen aus, für Autos und technisches Spielzeug. Seine Wohnung
war die eines sorglosen und von allem Ballast der Verbindlichkeiten befreiten
Junggesellen, ausgestattet mit einigen wenigen Statussymbolen wie dem riesigen
Flatscreen-Fernseher an der Wand, einer chromglänzenden Espressomaschine, die
er so gut wie nie benutzte, weil er jedes Mal aufs Neue die Bedienungsanleitung
lesen musste, oder seiner WiFi-Konsole, mit deren Hilfe er gerade das
Tennisspielen lernte.
Die Wohnung war sparsam und modern möbliert. Er hatte eine Putzfrau, die
über eine vom BND empfohlene Agentur kam, und einen Abfallschacht im Hausflur,
der - wichtig! - groß genug war, um Pizzakartons ungefaltet zu entsorgen. Das
Bett war frisch bezogen, er selbst kam gerade aus der Dusche und öffnete, das
Badehandtuch lässig um die Hüften geschlungen, als es kurz nach sechs
erwartungsgemäß klingelte.
Sie sagte kein Wort und küsste ihn.
Es war ein schnelles, heißes und hastiges Begehren. Hinterher rollte sie
sich von ihm herunter und blieb, den Kopf in die warme Kuhle seines Bauches
geschmiegt, liegen. Teetee glitt mit der Hand in ihr zerzaustes Haar. »Seit
wann bist du hier?«
»Seit gestern. Der iranische Außenminister hat völlig überraschend sein
Kommen angekündigt. Grande confusione. Aber behalte das für dich. Es wird erst übernächste Woche an die Agenturen
gegeben, wenn alle mit den Vorbereitungen fertig sind.«
Sie schnurrte, als seine Finger begannen, ihren Nacken zu massieren.
»Ich wohne noch im Bayerischen Hof. Nächste Woche bekomme ich mein altes
Apartment in Bogenhausen wieder. Die Israelis wohnen zwei Stockwerke über mir,
und den Ägyptern und Russen laufe ich morgens beim Joggen an der Isar über den
Weg. Die Welt ist klein. Unsere Welt wenigstens. Ich mag München. Hast du
Zigaretten?«
»Du rauchst?«
»Immer nur hinterher.«
Er stand auf und ging in die Küche, wo er im Hängeschrank ein
angebrochenes Päckchen Marlboro aufbewahrte. Er zündete zwei an, nahm einen
Unterteller als Aschenbecher und ging zurück ins Schlafzimmer. Angelina
lächelte ihn an, nahm ihm die Zigarette ab und inhalierte tief. Er legte sich
wieder neben sie und ließ sein Handy in der Nachttischschublade verschwinden.
Ärgerlich, dass er nicht vorher daran gedacht hatte. Es sollte Seminare geben, Handhabung
mobiler Telefone - ein Leitfaden für Nachrichtendienstleister, die Umgang mit
den Angehörigen befreundeter Dienste pflegen. Auch für Ehemänner
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