Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)
Z., »ist eine hohe Kunst, die selten gelehrt und noch seltener beherrscht wird. Die meisten Menschen sind von der Menge des Entbehrlichen hoffnungslos überfordert.«
21 Als er unter uns einen Mißgünstigen entdeckte, ermahnte er ihn: »Dem Neidischen fehlt es an Phantasie. Er beschäftigt sich damit, was andere haben und tun, wie sie leben und wie sie aussehen. Damit schadet er sich selbst. Er treibt es mit der Selbstlosigkeit zu weit.«
22 Einmal brachte Z. eine dieser robusten osteuropäischen Taschen aus buntem Plastikstoff mit, aus der er einen Stapel von Büchern hervorholte. Es war das erste Mal, daß er etwas mitschleppte.
»Das sind alles heilige Schriften«, sagte er, »also Werke, denen es, schon ehe es Bestsellerlisten gab, nie an Lesern gefehlt hat. Woran mag das liegen? Darüber habe ich lange gegrübelt. Gewiß, die Lektüre ist abwechslungsreich. Man wird mit Wundern und phantastischen Erzählungen unterhalten. Manche Stellen sind tiefsinnig, andere blutrünstig. Die Literaturkritik prallt an ihnen ab. Der einsame Hotelgast findet sie in der Nachttischschublade, Erstdrucke sind auf Auktionen teuer und auf manchenStänden in der Fußgängerzone gratis zu haben.«
»Wollen Sie uns etwa aus diesen Bänden vorlesen? Eine Bibelstunde hätten wir zuallerletzt von Ihnen erwartet.«
»Auf das Alte und das Neue Testament sollten wir uns nicht beschränken. Ich kann Ihnen nicht nur den schönen Reprint der Lutherübersetzung von 1545 zeigen, eine Ausgabe letzter Hand, äußerst empfehlenswert, sondern auch den babylonischen Talmud, einen Koran, die Reden des Buddha und sogar das Buch Mormon aus dem Jahr 1830, aber natürlich ist an Vollständigkeit nicht zu denken; man könnte fast sagen, heilige Schriften gebe es wie Sand am Meer.
Auffallend ist, daß jede von ihnen sich für die einzige hält und für die anderen wenig übrig hat. Die meisten überraschen durch eigentümliche Vorschriften und Verbote. Einmal heißt es, man dürfe Zauberinnen nicht am Leben lassen; als Mann müsse man sich auf vier Ehefrauen beschränken; Wein und Schweinefleisch seien zu meiden, und das Zicklein dürfe auf keinen Fallin der Milch seiner Mutter gekocht werden.
In manchen dieser Schriften wird Gott als unmittelbarer Urheber bezeichnet, andere lassen dagegen verschiedene Verfasser zu. Aufgeklärte Leser betonen, daß man solche Offenbarungen nicht wörtlich zu verstehen habe, und weisen auf die komplizierte Quellenlage hin. Nicht umsonst habe die Überlieferung durch Jünger, Hadithe, Kommentatoren und Konzilien bereits Apokryphes ausgeschieden und die Spreu vom Weizen getrennt. Strenggläubige Leser hören solche Erläuterungen ungern.«
23 Einige ältere Zuhörer monierten, daß aus Z.s Bemerkungen ein gewisser Unernst spreche. Nicht zum ersten Mal habe man das Gefühl, daß es ihm an dem gebotenen Respekt fehle.
»Es tut mir leid, daß Sie diesen Eindruck haben«, antwortete Z. Ihn zu widerlegen falle ihm schwer. Statt dessen möchte er sich mit einer Anekdote begnügen.
»Sie handelt von einem irischen Bekannten,der leider nicht hiersein kann, weil er viel unterwegs ist. Er arbeitet nämlich als Purser für eine große Fluggesellschaft. Vorher war er aber Stadtpfarrer, ich glaube sogar Prälat in der katholischen Kirche seiner Heimat, bis er unter skandalösen Umständen den Priesterrock ausziehen mußte. Die englische Sprache hat dafür den anmutigen Ausdruck he was unfrocked.
Er fragte mich, ob ich glauben könne, daß höhere Mächte den Religionen ihre Offenbarungen Wort für Wort in die Feder diktiert hätten.
›Warum sollte das nicht möglich sein?‹ erwiderte ich. ›Oder hältst du es für ausgeschlossen, daß es im Universum Geister gibt, die uns überlegen sind?‹
Doch damit wollte er sich nicht zufriedengeben.
›Diese Hypothese‹, behauptete er, ›würde die Sache nur noch schlimmer machen. Man müßte daraus schließen, daß die Offenbarungen, von denen du redest, eine Art göttlicher Jux wären, ein practical joke , ein Streich, den diese höheren Wesen derMenschheit spielen. Als weideten sie sich an unseren Bemühungen, die heiligen Schriften zu entziffern und zu deuten. Das würde wenigstens ihre Widersprüche erklären, ebenso wie den Umstand, daß sie stilistisch zwischen dürren Listen, herrlichen Gedichten, öden Kriegsberichten, pedantischen Bauvorschriften und fesselnden Familiendramen hin- und herpendeln.‹
Das kam nun wiederum mir frivol vor, und ich zog mich auf die Lehre des
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