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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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der flachen Hand strich er über Mulden und Täler. Aus Angst, die Kapseln noch tiefer in den Sand zu treten, wagte er keinen Schritt. Er drehte den Oberkörper nach rechts und nach links. Behutsam zuerst, dann zunehmend verzweifelt seihte er den Sand in Reichweite durch seine Finger, harkte die Oberfläche mit zehn Fingern um, spürte die pulsierende Wunde an seiner Hand und konnte im abnehmenden Licht bald kaum noch die eigenen Unterarme erkennen. Die Sonne war schon tief hinter dem Horizont versunken, die nadelfeine Sichel des Mondes folgte ihr rasch. Lange blieb Carl so in seinen Fußstapfen hocken. Schließlich stützte er sich mit der gesunden Hand zwischen seinen Sandalen auf, streckte den Körper waagerecht zur Seite aus und zog mit dem Fuß einen Kreis um den Mittelpunkt, Radius eine Körperlänge. Dann stand er auf, bürstete sorgfältig Hände, Füße und Kleider ab und machte einen großen Schritt aus dem Kreis heraus. Fin paar Meter daneben legte er sich schlafen.
    Weiß einer, wie es ist, die Nacht in der Wüste zu erleben, allein? Wer gewohnt ist, seine Nächte in einem Bett zu verbringen, in einem Haus, umgeben von anderen Häusern und Menschen, macht sich davon nur schwer eine Vorstellung. Und noch schwerer macht man sich eine Vorstellung davon, wie die Schwärze und Finsternis der Metaphysik an einem Geiste zerren kann, der in sich selbst seit Tagen nichts weiter zu erkennen vermag als ein unbeschriebenes Blatt Papier.

    DIE ELEKTRIFIZIERUNG DES SALZVIERTELS
     
    Art thou pale for weariness
    Of climbing heaven and gazing on the earth,
    Wandering companionless
    Among the stars that have a different birth,
    And ever changing, like a joyless eye
    That finds no object worth its constancy.
    Shelley
     
    Als Gegensatzbegriff zur Zivilisation wird oft Barbarei genannt, doch ein passenderes Wort wäre im Grunde Einsamkeit. War es schon tagsüber still und windstill gewesen, wuchs in der Nacht die Stille noch einmal bedrückend an. Rücklings im Sand liegend, die blutverkrustete, pulsierende Hand auf seine Brust gelegt, erblickte Carl nie gesehene Sternenmassen über sich.
    Er sah das Blinken ferner Sonnen, die nichts waren als Stäubchen im All, und zu wissen, dass er selbst mit dem Rücken auf einem solchen Stäubchen lag und nur durch ein paar Körner und Kiesel, durch eine winzige Materiezusammenballung getrennt vom ewigen, schwerelosen Nichts auf der anderen Seite … die bestürzenden Größenverhältnisse kamen ihm zu Bewusstsein und mischten sich mit seiner Furcht. Furcht, dass ihm jemand gefolgt sein könne (oder beim ersten Lichtstrahl folgen werde), Furcht, dass er fliehen müsse, ohne die Kapseln zuvor wiedergefunden zu haben, Furcht, ein nächtlicher Sandsturm könne alles verwehen … und über ihm die Zumutung Tausender Galaxien, denen das alles unendlich egal war.
    Satelliten zogen durch die Nacht. Ein größerer Punkt, vielleicht ein Flugzeug. Die Vorstellung von achtzig schläfrigen Körpern an Bord einer Boeing, zehn Kilometer hoch über ihm, steigerte das Gefühl des Verlassenseins bis zur Kränkung. Es wurde kalt. Carl grub sich in den Sand, und im Laufe der Nacht grub er sich immer tiefer in den Sand. Er hatte unruhige Träume, an die er sich später nicht erinnern konnte.
    Der in der Nacht gezogene Kreis entpuppte sich im ersten Licht des Morgens als eine leicht eiförmige, zweifache Spirale um ein zerwühltes Zentrum. Außen um den Kreis herumgehend konnte Carl die Kapseln nirgends erspähen. Er untersuchte seine Sandalen, um sich zu vergewissern, dass er sie nicht im Profil der Sohlen mit fortgeschleppt hatte, und begann schließlich an der Leeseite des Kreises, sorgfältig den Sand zu durchsieben. Er ließ ihn von der einen Hand in die andere rieseln, zweimal, dreimal, und warf ihn dann mit dem Wind hinter sich. Stunde um Stunde arbeitete er so, trug die oberste Sandschicht vor seinen Knien ab, rutschte dann ein Stück voran und siebte weiter. Die Sonne hob sich hoch und höher, und schwitzend und durstig hockte Carl in seiner kleinen Mulde. Seine Verzweiflung wuchs. Gegen Mittag hatte er über die Hälfte des Kreises abgetragen und noch immer nichts gefunden. Aus Angst, die Kapseln in einem unachtsamen Moment mit dem Sand nach hinten geworfen zu haben, siebte er ihn mittlerweile vier- oder fünfmal durch seine Hände, bevor er ihn auf den kleinen Hügel hinter sich warf. Die zunehmende Sorgfalt ließ ihn nun gleichzeitig fürchten, am Anfang nicht sorgfältig genug vorgegangen zu

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