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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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anzuziehen. Sie passten ihm wie angegossen.
    «Dein Zeug kannst du nachher ins Hotel bringen.»
    «Ich seh aus wie ein Kanarienvogel.»
    «Bis morgen ist das fertig.»
    Anschließend fuhr Helen mit dem Honda zum amerikanischen Konsulat, um dort, wie sie sagte, ein paar Informationen einzuholen, während Carl einen Spaziergang zum Sheraton hinauf unternahm. Nachdem er sein Bündel in die Hotelreinigung gegeben (und sich bei dieser Gelegenheit erstmals als «Carl Gross, Nummer 581 d» vorgestellt) hatte, fragte er den Hotelangestellten noch aufs Geratewohl, ob er einen Cetrois kenne, Monsieur Cetrois. Ja, in Targat heimisch. Nein, kein Hotelgast. Wahrscheinlich nicht.
    Aber der Mann kannte keinen Cetrois und musste einen zweiten Angestellten herbeirufen, der ebenfalls nichts wusste. Der erste rief einen dritten und der zweite einen vierten, und bevor es zu einem Massenauflauf kommen konnte, gab Carl den Männern ein Bakschisch aus einem Packen kleinerer Geldscheine, den Helen ihm zugesteckt hatte, bedankte sich und ging.
    Gegen den ausdrücklichen Rat seiner Freundin schlug er den Weg nach Targat hinunter ein. Er sah freundliche Gesichter, er sah unfreundliche Gesichter, er las Straßen- und Firmenschilder. Ein Rechtsanwalt hieß Groisenois. Auf einem Stein stand In memoriam Charles Boileau. Versuchsweise sprach er einen Passanten an, aber je näher er dem Stadtzentrum kam, desto häufiger wurde er auch selbst angesprochen. Mit dem gelben Blazer und den Bermudas sah er aus wie ein sehr exzentrischer, sehr reicher Tourist, und in den engen Gassen rund um den Suq konnte er keine fünf Schritte gehen, ohne dass irgendwelche Männer mit Worten und Gesten herzlichster Vertraulichkeit auf ihn zustürzten. Hilfsbereite, jugendliche Nichtstuer, Scharlatane, Händler begrüßten ihn per Handschlag. Den meisten stand ins Gesicht geschrieben, was sie von ihm wollten, doch plagte ihn bei vielen auch der Verdacht, sie könnten ihn aus einem früheren Leben kennen.
    Aber den Männern Fragen zu stellen, war aussichtslos. Mit einem freudigen «Wie geht’s!» warfen sie ihrem lieben alten Freund und guten Bekannten einen schweren Arm um die Schultern und versuchten, ihn in kleine Läden zu bugsieren, in denen sie oder ihre Cousins unterschiedslos Gewürze, Sandalen, Schachteln aus Thujaholz, bunte Bänder, Plastiklöffel und Sonnenbrillen feilboten.
    Um die Prozedur abzukürzen, änderte er schließlich seine Strategie. In einer weniger belebten Straße setzte er ein etwas gedankenverlorenes Gesicht auf, um dann seinerseits mit allen Zeichen freudigen Wiedererkennens auf irgendwelche Leute zuzustürzen und sie immer abwechselnd zu fragen, wo sie einander zuletzt gesehen hätten oder ob Monsieur Cetrois heute schon da gewesen sei. Er tat, als sei er hier verabredet gewesen mit seinem Freund, seinem Feind, seinem Schwager, seinem Schuldner. Er tat, als habe er ihn zuletzt vor fünf Minuten noch gesehen, oder erweckte den Eindruck, Monsieur Cetrois wohne hier gleich nebenan, Straße und Hausnummer vergessen. Er beschrieb einen durchschnittlichen Araber, einen Franzosen, einen Schwarzen. Aber niemand schien je von einem Mann dieses Namens gehört zu haben. Als einziges Ergebnis seiner Recherche schleppte er eine Traube von Straßenkindern hinter sich her, die ihm einen egalweg großen, schlanken, kleinen, bärtigen, dicken, hellhäutigen, negroiden, reichen, stinkenden oder drahtigen Monsieur Cetrois jederzeit herbeizuschaffen versprachen gegen ein paar Kupfermünzen oder eine Fahrt im Autoskooter. Schließlich nahm er erschöpft in einem Straßencafé Platz.
    Er hatte den Minztee schon zur Hälfte getrunken, als sein Blick auf ein Schild über dem Eingang des Nachbarhauses fiel: Commissariat Central.
    Seine Angst vor der Polizei war ungebrochen groß, aber zugleich musste er gegen die Gravitationskraft ankämpfen, die das Gebäude auf ihn ausübte: Wo, wenn nicht dort, gab es Informationen über vermisste Personen?
    Er sah zwei Polizisten aus der Tür treten und sich unterhalten, nur einige zwanzig Meter entfernt. Der eine trug eine sich unter der Kleidung deutlich abzeichnende Waffe und ließ seinen Blick über die Menge gleiten, während er sich mit gespreizten Fingern durch die Haare fuhr. Mitten in der Bewegung hielt er plötzlich inne, packte seinen Kollegen am Arm und zeigte mit dem Kinn in Richtung des kleinen Cafés, in dem ein einzelner Gast in einem gelben Blazer saß … oder bis vor zwei Sekunden noch gesessen

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