Herrndorf, Wolfgang - Sand
gegeben hatte, war es offensichtlich das, was Canisades schon von der ersten Sekunde an vermutet hatte: Einer der zwei Goldjungen hatte den anderen erschlagen und war in die Wüste geflohen. Ein großer Verlust war das nicht. Er fühlte sich zur Strafverfolgung nur in Maßen motiviert.
«Ohne Leiche kein Mord», zitierte er das Lehrbuch. «Solange du nicht weißt, wo du deinen Jungen begraben hast, gibt es keinen Jungen. Und solange du hier keine Leiche findest, rufst du gefälligst auch nicht noch mal die Polizei. Oder wir schauen doch noch mal nach, was du da oben in der Scheune zusammenbraust, klar?»
«Aber da, da hab ich ihn begraben, da!», rief der Alte und zeigte verzweifelt aus dem Fenster in die Wüste. Irgendwo da, irgendwo in der Nähe, sicher nicht weit, man könne ja suchen. Sein Finger zitterte, und vor dem Fenster huschte ein Schatten vorüber. Um den Schatten wahrzunehmen, waren die Augen des Alten allerdings zu schwach, und Canisades stand mit dem Rücken zum Fenster. Der Schatten bewegte sich auf Canisades’ Auto zu, blieb daneben stehen und duckte sich.
DIE UNSICHTBARE KÖNIGSBRIGADE
Manche Menschen – und ich selber gehöre zu ihnen – haben für Happy Ends nichts übrig. Wir fühlen uns hintergangen. Unglück ist das Normale. Das Verhängnis sollte nicht klemmen. Die Lawine, die in ihrem Lauf ein paar Meter über dem sich duckenden Dorf zum Stillstand kommt, benimmt sich nicht nur unnatürlich, sondern unmoralisch.
Nabokov
Amadou hatte sich zwei Tage lang im Salzviertel versteckt, dann waren die Bulldozer gekommen. Er lebte auf der Straße, er schlief am Strand, er hungerte. Nach Tindirma zurückzukehren, wo er zuletzt gewohnt und vier Menschen erschossen hatte, war das Gefährlichste und Dümmste, was er machen konnte, aber bald wusste er sich keinen anderen Rat mehr.
Er erreichte früh am Morgen die Piste und marschierte zügig voran. Doch er hatte seine Kräfte überschätzt. Die nackten Füße schmerzten, der Durst quälte ihn bei jedem Schritt. Als er in einiger Entfernung ein großes Gebäude und ein paar kleinere entdeckte, schlich er dorthin. Im ersten Moment schien das Anwesen verlassen. Einen Brunnen fand er nicht. Von Baracke zu Baracke stolpernd, entdeckte er nur einen ausgestreckt auf der Erde liegenden, alten Fellachen, der aussah wie tot. Ein Auge weiß getrübt. Doch sein Brustkorb hob und senkte sich. Amadou wagte nicht, den Mann zu berühren. Neben seinem Kopf stand ein Kanister. Eilig riss Amadou den Kanister hoch, trank zwei Schlucke und spuckte aus. Hochprozentiger Alkohol.
Hustend und röchelnd durchstöberte er die restlichen Gebäude und die Scheune, und weil er nirgends Wasser fand, versuchte er am Ende, seinen Durst aus dem Kanister zu stillen. In ganz kleinen Schlucken, schien ihm, müsse es gehen. Es ging nicht. Es brannte entsetzlich.
Er fand ein paar Fässer, eine Leiter und einen abgerissenen Flaschenzug. Über ihm eine Luke zum Dachboden. Gerade fragte er sich, wie er dort hinaufgelangen könne, da hörte er in der Ferne ein Geräusch.
Durch die Ritzen der Bretterwand hinausspähend, sah er eine sich von der Piste her nähernde Limousine, die nur wenige Meter an seinem Versteck vorüberfuhr und vor den Baracken hielt. Der Fahrer (hellgrauer Anzug, gepflegte Erscheinung) stieg aus, kurz darauf sah Amadou ihn im Gespräch mit dem Fellachen. Sie kamen sofort zur Sache. Der Alte fiel vor dem Fahrer auf die Knie, Amadou hörte das Wort «Geld». Immer wieder bestürmte der Alte den Fahrer, immer wieder war von Entschädigungen und Geld die Rede. Schließlich verschwanden sie in einer der Baracken. Nichts passierte. Die Fahrertür des Autos stand offen.
Amadou wartete kurz, dann schlich er zum Auto und kroch auf den Fahrersitz. Der Zündschlüssel war abgezogen. Er versuchte, die Verkleidung um das Zündschloss mit den Fingernägeln herunterzureißen, und hielt inne, weil er Stimmen zu hören meinte. Er sprang auf die Rückbank, duckte sich und zog einen herumliegenden Pullover über seinen Kopf. Jetzt waren die Stimmen nicht mehr zu hören. Einige Minuten kauerte er so da. Dann hob er unruhig den Kopf und begann, das Auto zu durchsuchen. Unter dem Fahrersitz zog er ein paar Gegenstände hervor. Einen Draht, einen Bleistift, eine Wasserflasche. Er trank die Wasserflasche leer, brach vorsichtig den Bleistift in zwei gleich große Hälften, schlang je ein Ende des Drahtes um je eine Bleistifthälfte und zwirbelte sie fest. Probeweise zog er an den
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