Herrscher der Erde
zuvor war die Stadt ruhig – eine Sekunde danach war sie ein Irrenhaus.
Innerhalb von vierzig Tagen wurden neun Städte davon befallen.
SEATTLE
Zuerst ein Klingen in den Ohren, das zu einem Pfeifen wurde. Das Pfeifen wurde zum schrillen Warnsignal eines Geisterzugs, der durch den Traum donnerte.
Ein Psychoanalytiker hätte seine Freude an dem Traum gehabt und ihn studiert.
Dieser Psychoanalytiker studierte nicht den Traum – er hatte ihn. Er zog sich das Laken um den Hals, wand sich auf dem Bett und zog die Knie ans Kinn.
Das Pfeifen des Zuges ging in die Altstimme einer Sängerin über, die den »Insane Crazy Blues« sang. Der Traum vibrierte vor Furcht und Wildheit.
»Eine Million Dollar bedeuten nichts ...«
Die heisere Stimme schwang sich über das Schmettern der Bläser und das Dröhnen der Trommeln.
Eine dunkelhäutige Sängerin mit leuchtenden, blauen Augen und ganz in Schwarz gekleidet, öffnete die Arme gegen ein nicht sichtbares Publikum. Sie begann mitsamt dem roten Vorhang hinter ihr zu rotieren. Die Umdrehungen wurden immer rascher, bis er nur noch eine rote Scheibe sah. Diese wurde zu der Öffnung einer Trompete, aus der ein einzelner Ton drang.
Die Musik schrillte und schnitt wie ein Messer in sein Gehirn.
Dr. Eric Ladde erwachte. Er atmete rasch. Sein Körper war schweißbedeckt. Er hörte immer noch die Sängerin und die Musik.
Ich träume, daß ich wach bin, dachte er.
Er befreite sich von dem Laken, schwang seine Beine über den Bettrand. Nach einer Weile erhob er sich, ging zum Fenster und betrachtete das Bild des Mondes im Washingtonsee. Er betätigte den Schalter des Außenmikrophons neben dem Fenster und vernahm die Geräusche der Nacht: Grillen, Kröten am Seeufer und das ferne Summen einer Schwebebahn.
Er hörte das Singen.
Er schwankte und hielt sich am Fensterbrett fest.
Die Wahnsinnsseuche ...
Er drehte sich um und warf einen Blick auf das Nachrichtengerät auf dem Nachttisch. Seattle wurde nicht erwähnt. Vielleicht war ihm nur übel. Aber die Musik in seinem Kopf rührte von keiner Übelkeit her.
Er riß sich verzweifelt zusammen, schüttelte den Kopf und schlug sich mit der Hand gegen das Ohr. Der Gesang hörte nicht auf. Er sah auf die Uhr: 1:05, Freitag, 14. Mai 1999.
Die Musik in seinem Kopf verklang. Aber da! Applaus! Leute klatschten, riefen und trampelten mit den Füßen. Eric rieb sich den Kopf.
Ich bin nicht verrückt ... Ich bin nicht verrückt ...
Er schlüpfte in seinen Morgenrock und begab sich in die Kochnische seiner Junggesellenwohnung. Er trank ein Glas Wasser, gähnte, hielt die Luft an, tat alles mögliche, um die Geräusche loszuwerden, die nun nach gedämpften Unterhaltungen, Gläserklirren und dem Schleifen von Füßen klangen.
Er schenkte sich ein Glas Whisky ein und trank es in einem Zug aus. Die Geräusche in seinem Kopf waren wie weggeblasen. Eric betrachtete das leere Glas in seiner Hand und schüttelte den Kopf.
Ein neues Mittel gegen Geistesgestörtheit: Alkohol! Er lächelte gequält. Und jeden Tag predige ich meinen Patienten, daß das Trinken keine Lösung ist. Er dachte bitter: Ich hätte mich vielleicht der Einsatzgruppe anschließen sollen, anstatt hier zu versuchen, eine Maschine zu konstruieren, die die Geisteskranken heilt. Wenn sie mich nur nicht ausgelacht hätten ...
Er schob eine Schachtel beiseite, um neben dem Ausguß Platz zu schaffen, und stellte das Glas nieder. Aus der Schachtel ragte ein Notizblock hervor, der auf einem Haufen elektronischer Bestandteile lag. Er nahm ihn auf und betrachtete den Umschlag, auf den er mit großen Blockbuchstaben geschrieben hatte: AMANTI-TELESONDE HEFT IX.
Den alten Doktor haben sie auch ausgelacht. Bis er endlich in eine Anstalt kam. Vielleicht bin ich ebenfalls auf dem Weg dorthin – so wie alle anderen auf der Welt.
Er schlug das Notizheft auf und folgte mit dem Finger dem letzten Schaltbild. Die Telesonde in seinem Kellerlabor war teilweise noch gemäß der Skizze konstruiert.
Wo steckte der Fehler?
Er schloß das Heft und warf es in die Schachtel zurück. In Gedanken ging er eine Reihe von Theorien durch, das Wissen, das er sich auf Grund von tausend Fehlschlägen angeeignet hatte. Er war müde und niedergeschlagen, doch wußte er, daß das, wonach Freud, Jung und Adler in Träumen und Verhaltensweisen gesucht hatten, sich in einem elektronischen Schaltkreis gerade außerhalb seines Bewußtseins befand.
Er ging in das kombinierte Wohn- und Schlafzimmer zurück und
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