Herrscher der Erde
abscheulich, wie sie mit der Logik umgehen, um mathematische Beweise dafür zu konstruieren ...«
»Ich wäre an deiner Stelle nicht so sicher. Ich könnte dir das eine oder andere erzählen. Ohne zu lügen.«
»Du kannst die Gedanken der Leute lesen.«
»Lesen ist nicht das richtige Wort. Und es sind nicht alle Leute.« Bei diesen Worten sah er die Straße hinauf, die sich oberhalb des Postamts verzweigte. Dann wandte er sich wieder mir zu. »Es handelt sich nur um eine Person.«
»Du liest die Gedanken eines bestimmten Menschen?«
»Ich merke, daß du mir nicht glaubst. Aber ich werde es dir trotzdem erzählen. Ich habe es nie zuvor jemandem erzählt, der nicht aus dem Dorf ist, aber du bist ja fast aus dem Dorf, und nachdem du ein Schriftsteller bist, könntest du vielleicht etwas damit anfangen.«
Ich seufzte und schloß die Zeitschrift.
»Ich war gerade zu meiner Schwester gezogen und siebzehn Jahre alt. Sie war damals bereits etwa drei Jahre verheiratet, aber ihr Mann, der Kapitän, befand sich in Hongkong. Ihr Schwiegervater, der alte Jerusalem Berstauble, lebte damals noch. Er hatte das Zimmer an der Rückseite. Er war völlig taub und konnte sich ohne Hilfe nicht aus dem Rollstuhl erheben. Deswegen holte man mich auch ins Haus. Der alte Mr. Jerusalem war ein ziemlich wilder Geselle, wenn du dich erinnern kannst. Aber ich glaube, du kanntest ihn ja gar nicht.«
(Das war die Art, wie mich die Dorfbewohner daran erinnerten, daß ich nicht im Dorf aufgewachsen war. Es war irgendwie unvermeidlich, wenn sie von »alten Zeiten« sprachen, obwohl sie mich alle akzeptierten, weil meine Großeltern Dorfbewohner waren und ich zur Ausheilung einer Kriegsverletzung »nach Hause« gekommen war.)
»Der alte Mr. Jerusalem liebte sehr die tägliche Partie Kribbage am Abend«, sagte Cranston. »Und an dem Abend, von dem ich dir erzählen will, spielten er und meine Schwester in der Bibliothek. Wegen seiner Taubheit sprachen sie nicht viel, und daher vernahm man von dort her nur das Klatschen der Karten und hin und wieder das Murmeln meiner Schwester, wenn sie ihre Karten kommentierte.
Wir hatten die Lichter im Wohnzimmer abgedreht, doch brannte im Kamin ein Feuer, und die Tür zur Bibliothek stand offen. Ich saß mit Olna, dem norwegischen Mädchen, das damals meiner Schwester half, im Wohnzimmer. Ein paar Jahre später heiratete sie Gus Bills, der bei der Maschinenexplosion in Indian Camp ums Leben kam. Olna und ich hatten ein norwegisches Kartenspiel gespielt, das dem Whist ähnelt, doch bekamen wir genug davon und saßen einfach einander vor der Feuerstelle gegenüber und hörten mit halbem Ohr auf das Kartenspiel im Nebenzimmer.«
Cranston schob sich die Schirmmütze aus der Stirn und sah über das grüne Wasser des Sundes, wo ein Schlepper eine Menge Baumstämme hinter sich herzog.
»Olna war damals sehr hübsch«, fuhr er fort. »Ihr Haar war silbriggolden und ihre Haut – als könnte man durchsehen.«
»Du warst in sie verknallt.«
»Verrückt ist das richtige Wort. Und sie kümmerte sich nicht im geringsten um mich – zunächst.«
Wieder machte er eine Pause. Er zupfte am Schirm seiner Kappe. Dann fuhr er fort: »Ich versuchte, mich zu erinnern, ob es meine oder ihre Idee gewesen war. Es war meine. Olna hielt das Kartenpaket immer noch in der Hand, und ich sagte zu ihr: ›Olna, misch die Karten. Zeig sie mir nicht.‹ Ja, so war es. Ich sagte ihr, sie solle die Karten mischen und dann eine nach der anderen nehmen. Ich wollte versuchen, sie zu erraten.
Zu der Zeit sprach man gerade sehr viel von dem Knaben an der Duke Universität, diesem Doktor. Ich vergaß seinen Namen. Er ließ die Leute Karten raten. Ich glaube, ich kam deswegen auf die Idee.«
Cranston schwieg eine Zeitlang, und ich schwöre, er sah einen Augenblick lang jünger aus – besonders um die Augen.
Wider meinen Willen erwachte mein Interesse. »Und was geschah dann?«
»Ha? Oh – sie sagte: ›Ja, wir wollen sehen, ob du diese erraten kannst.‹ Olna hatte einen ziemlich kräftigen Akzent. Man hätte meinen können, sie wäre in Europa auf die Welt gekommen anstatt drüben in Port Orchard. Nun, sie nahm die erste Karte und sah sie an. Himmel, wie schön sie war, als sie sich so zur Seite neigte, damit das Licht aus dem Nebenzimmer besser die Karte beleuchtete! Und im selben Moment, als sie darauf sah, wußte ich, was es war: der Kreuzbube. Es war, als sähe ich es irgendwo in meinem Geist. Eigentlich kann man es nicht als sehen
Weitere Kostenlose Bücher