Herrscher über den Abgrund
Schrecken. War sie denn all die Tage nicht von der Richtigkeit ihres Anhängers überzeugt gewesen?
„Was ist das, was du da trägst?“ fragte sie ihn und starrte sein Stirnband an. „Es ist aus Draht. Warum hast du das gemacht? Warum trägst du es?“
„Das ist mein Geheimnis“, antwortete Sander trotzig. „Ein Geheimnis der Schmiedezunft.“
Sie akzeptierte die Erklärung und sagte auch nichts, als er Rhin das andere Metallornament um den Hals leg te.
Wie gewöhnlich liefen die Fischer voraus. Nach dem Essen belud Sander den Kojoten und befestigte das Gepäck derart, daß ein einziger Ruck an dem Riemen genügte, um das Tier von der Last zu befreien. Falls sie einer Gefahr begegneten, sollte Rhin nicht behindert sein.
Fanyi, die Augen auf den Anhänger gerichtet, führte sie weiter. Die Erd- und Trümmerhügel wurden weniger; zwischen ihnen gab es mehr Platz für die Büsche und Bäume, die immer dichter wuchsen. Sie gingen parallel zum Flußufer, und allmählich senkte sich das Land, so daß die Klippen, die über dem Wasser ragten, nicht mehr so hoch waren.
Nicht lang, nachdem sie ihr Lager verlassen hatten, kamen sie auf eine offene Fläche, die mit Radspuren bedeckt war. Rhin beschnüffelte sie, doch knurrte er nicht. Auch Sander schienen sie sehr alt zu sein, doch waren sie so zahlreich, daß man annehmen mußte, daß einst reger Verkehr nach und aus der Stadt geherrscht hatte.
Neben den Wagenspuren fand er nur noch die Abdrücke der berühmten großen Hunde der Händler. Zum erstenmal seit ihrem Aufbruch sprach Sander – obgleich er sicher war, Fanyi hing ihrer Vision nach und achtete gar nicht darauf, daß er und Rhin bei ihr waren.
„Wenn deine Zeichen uns in diese Richtung weisen“, sagte er, „sind wir möglicherweise nicht die einzigen, die deinen Platz finden. Die Händler, oder wer immer es gewesen sein mag, haben diese Stadt gründlich durchsucht.“
Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, daß einer der Händler von dem weiß, was wir suchen. Es ist kein Metall, also kein Ding, das von den Vergangenen Menschen mit den Händen geschaffen worden ist, sondern es ist die Arbeit ihres Geistes. Ich weiß, daß kein Händler sich mit dergleichen abgeben würde.“
„Kennst du denn alle Händlersippen?“ fragte er zurück. „Wir aus dem flachen Land kennen vier, die regelmäßig kommen, insgesamt dreißig Leute. Nie haben wir ihre Frauen gesehen. Wie viele kamen nach Padford?“
„Ich kann mich an zwanzig entsinnen“, antwortete sie sofort. „Und mein Vater – aber er war kein Händler. Vielleicht gibt es noch mehr wie ihn, Sucher des Wissens.“
„Und doch ist er mit Händlern abgereist“, bohrte Sander weiter. „Und es ist bekannt, daß es nicht ihrer Art entspricht, einen Fremden mit sich ziehen zu lassen.“
„Meine Mutter hat erzählt, daß die, die ihn mitgebracht haben, ihn sonderbar behandelten, beinahe, als fürchteten sie ihn. Aber er gehörte nicht zu denjenigen, denen die Waffe locker sitzt oder die ständig Streit suchen. Sie sagte, sie wäre überzeugt gewesen, der Anführer der Händler hätte erleichtert aufgeatmet, als sie weiterzogen und mein Vater sich entschlossen hatte, zu bleiben, um den Winter im Dorf zu verbringen. Er wollte sich ihnen wieder anschließen, wenn sie zurückkämen, um weiter nach Süden zu ziehen. Und sie schlugen ihm die Bitte nicht ab.“
Sander wurde es langsam leid, von diesem geheimnisvollen Vater zu hören, den man ins Grab gebettet hatte, noch bevor Fanyi überhaupt geboren war. Er hatte anscheinend auf die Mutter einen so tiefen Eindruck gemacht, daß sie ihn verehrte, wie es für eine Frau ungewöhnlich war.
„Es ist nicht üblich, daß eine Zauberpriesterin heiratet“, fuhr Fanyi fort. „Sie darf ihre Kräfte nicht dadurch einschränken, daß sie nur einem Mann ihre Gunst erweist. Aber es ist auch notwendig, daß sie eine Tochter aufzieht, die ihre Nachfolgerin wird. Deshalb war das Dorf auch zufrieden, als sie einen Reisenden wählte. Nur entdeckte sie, daß er ihr mehr bedeutete, als sie vermutet hatte. Und als er gestorben war, trauerte sie aus ganzem Herzen.“
„Du sagst“ – Sander fühlte sich ein wenig unsicher, weil Fanyi so voller Anteilnahme sprach – „eine Zauberpriesterin muß eine Tochter haben. Aber wenn es nun ein Sohn wird?“
Fanyi lachte. „Das passiert nie, Schmied. Wir haben auch unsere Geheimnisse, und bisweilen können wir sogar der Natur unseren Willen aufzwingen. Die erste
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