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Herrscher über den Abgrund

Herrscher über den Abgrund

Titel: Herrscher über den Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andre Norton
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meiner Sippe, also die, die die Finstere Zeit überlebt hat, besaß ein Wissen, das selbst damals neu war. Und dieses Wissen hat sie an ihre Tochter weitergegeben, und es wurde von Tochter zu Tochter weitergereicht. Wir gebären keine Söhne, nur Töchter – und nur eine Tochter in jeder Generation. Denn das ist unser Wille – wir können es ändern, wenn wir wollten, aber wir wollen es nicht ändern. Für einen Sohn gibt es keinen Platz in dem Haus einer Priesterin.“
    Vor ihnen öffnete sich das Land, je weiter sie vorankamen, bis sich plötzlich die Klippe erneut steil und messerscharf in den Himmel reckte, wie Sander es nie zuvor gesehen hatte. Wütend und laut rauschte hier der Fluß. Sie umrundeten einen Vorsprung und erblickten einen mächtigen Wasserfall, über dem feiner Nebel lag, so daß sie nicht erkennen konnten, wie tief das Wasser hinabstürzte.
    Auf der anderen Seite des Flusses erstreckte sich flacheres Land, das von keinen scharfkantigen Felsentrümmern übersät war. Bestürzt blieb Sander stehen. Irgendeine gewaltige Kraft hatte dieses Land zusammengeschoben und verdreht. Lavaströme hatten Felsbrocken, verbogenes Metall, das jetzt verrottet und verrostet war, überflutet und eingeschlossen. Dieser ganze Ort war ein einziges Gemisch von künstlich durch Menschen erschaffenen Dingen, die von den Naturkräften bezwungen wurden, umschlossen von einer unüberwindlichen Barriere –, so jedenfalls schien es auf den ersten Blick … Und doch führten die Wagenspuren direkt in die gigantische Trümmerlandschaft hinein. Fassungslos starrte Fanyi auf dieses Werk der Zerstörung.
    „Eine Woge – eine Woge, die das Land überflutet hat“, murmelte sie. „Eine Woge hoch wie ein Berg. Eine Woge, die den größten Teil der Stadt mit sich gerissen hat – eine Woge, die sich hier brach und alles, was schwer war, hier abwarf. Eine Woge gleich der, die mein Volk ins Landesinnere getragen haben soll. Jetzt staune ich, daß sie überhaupt überlebt haben, aber vielleicht war ihre Woge kleiner.“
    „Es spielt keine Rolle, wie das hier entstanden ist.“ Sander steuerte direkt auf den Hauptpunkt zu. „Wir müssen einen Weg dahindurch finden, falls dein Führer uns sagt, daß wir es tun sollen.“
    Sie blickte auf den Anhänger und nickte. „Der Pfad, auf den er deutet, liegt direkt vor uns. Aber dies“ – sie zeigte auf die Wagenspuren – „besagt doch, daß andere vor uns einen Weg gefunden haben, der breit genug ist, um mit einem Wagen hindurch zu kommen.“
    Sander erwähnte nicht, daß sie Gefahr liefen, in einen Hinterhalt zu geraten, wenn sie einer so deutlichen Spur folgten; denn er wußte auch keine andere Möglichkeit, die Barriere zu überwinden.
    „Schau!“ Fanyi deutete mit dem Finger. „Ein Gebäude!“
    Einen Augenblick schaute er überrascht in die Richtung, die sie zeigte, dann jedoch erblickte er die Ruine: es war kein vollständiges Gebäude, sondern es waren eigentlich nur Steinblöcke, die durch Eisenverstrebungen zusammengehalten wurden, wie sie die Vergangenen Menschen benutzten, um größere Steinmassen zu verbinden. Doch von den Blöcken waren genügend übriggeblieben, um eine Art Schale zu bilden, die sich scharf wie eine Zinne gegen den Himmel abhob.
    Die Ausmaße der Vernichtung waren überwältigend.
    Er hatte sein Leben lang die Geschichten über die Finstere Zeit hingenommen – all die Geschichten über die gigantischen Kräfte, die die Vergangene Welt besiegt hatten; er hatte die zerbröckelten Reste alter Städte gesehen, die Meereswüste. Aber erst jetzt, da er dieser Verwüstung gegenüberstand, erfaßte er, welche Naturkräfte entfesselt wurden und über seine Vorfahren und ihre Welt hereingebrochen waren. Es war tatsächlich schwer zu glauben, wie Fanyi gesagt hatte, daß ein Mensch diesem Inferno entkommen konnte.
    Fanyi hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. „Es ist …“ Sie fand keine Worte – ebensowenig wie er.
    Er legte ihr einen Arm um die zuckenden Schultern und zog sie an sich – zwei winzige Menschen vor dem Ruinenfeld einer untergegangenen Welt.
    Endlich riß Sander den Blick los. „Sieh nicht hin“, sagte er. „Sieh auf die Wagenspuren. Vielleicht behältst du recht, und sie führen weiter.“
    Hastig stolperten sie den Pfad entlang.
    Sander bemerkte, daß Rhin jetzt mit der Nase auf dem Boden lief, als folgte er einer Beute. Der Kojote schien das entsetzliche Gebirge gar nicht zu bemerken. Natürlich hatte dies auch für Rhin keine

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