Herrscher über den Abgrund
Sander spürte das Vibrieren seines Körpers: er knurrte, wagte aber nicht ein Geräusch zu machen.
Sander beugte sich zu dem Mädchen, so daß seine Lippen beinahe ihr Ohr berührten.
„Wissen deine Fischer, was für eine Gefahr droht?“ Wieder wünschte er, er könnte sich besser mit seinem Kojoten verständigen.
Sie sah prüfend nach Kai. Beide Tiere hatten die Fangzähne entblößt. „Irgend etwas kommt“, gab sie zur Antwort. „Und es kommt nicht nur aus einer Richtung. Siehst du, daß Kayi nach vorne schaut, während Kai sich nach hinten wendet? Wir sind genau zwischen zwei Gefahren.“
Sander schnitt eine Grimasse. Genau das fehlte ihnen noch! Er hatte ungefähr zehn Pfeile, und dann war da noch sein langes Messer und die Schleuder, mit der er zu jagen pflegte. Er legte seine Pfeile griffbereit und nahm dem Kojoten das Gepäck ab: er sollte frei sein, wenn es zu einem Kampf kam.
Lange Zeit hatte es den Anschein, als wäre es falscher Alarm gewesen. Aber Sander kannte das feine Gehör der Tiere. Möglicherweise hatten sie sogar gewittert, was da den Pfad entlangstrich. Dann allerdings …
Der Klang, der die Luft erfüllte, versetzte ihn zurück in seine Kindheit. Gleichzeitig durchzuckte ihn entsetzliche Angst. Dieser Ton hatte vor langer Zeit in den Ohren der Horde geklungen, so daß sie sich Gras in die Ohren gestopft hatten, um ihn nicht mehr zu hören. Es war das Schlachthorn der Weißhäutigen! Wer es einmal vernommen hatte, würde es nie mehr vergessen. Der schrille Ton löschte das Dröhnen des Wasserfalls aus, als sei es nicht mehr vorhanden.
Als Antwort auf das Horn ertönte ein Quaken und Kreischen, das noch entsetzlicher anzuhören war, denn es entstammte keiner menschlichen Kehle.
Sie kamen mit gewaltigen Sätzen den Pfad vom See herauf, die unheimlichen Wasserwesen, die den Flußbewohnern ähnlich sahen. Auch sie hatten ihre Körper mit Panzern aus Muschelschalen geschützt und trugen Speere mit heimtückischen Widerhaken. Die Riesenmuscheln, aus denen sie den Kopfschutz gefertigt hatten, bedeckten ihre Gesichter so vollkommen, daß Sander von seinem Versteck nichts weiter als diese Muschelschalen erkennen konnte.
Als die Wasserwesen in ihr Gesichtsfeld kamen, begannen sie, sich zwischen den Felsen zu verbergen. Wie Rhin besaßen sie eine von der Natur gegebene Tarnfarbe, so daß sie jetzt fast unsichtbar wurden. Sander war überzeugt, daß sie einen Überfall planten.
Wieder ertönte das Schlachthorn, und eines der gehörnten Tiere, die Sander bei den Weißhäutigen gesehen hatte, die auf der Ebene zu Tode gekommen waren, tauchte auf. Das Tier trug einen Reiter, der seine Fußspitzen in die Schlaufen eines Lederriemens gesteckt hatte, der dem Tier um den Bauch gegürtet war. Es näherte sich vorsichtig und war etwa zwei, drei Schritte auf dem offenen Pfad vorangekommen, als es plötzlich scheute und ein tiefes Grunzen ausstieß.
Der Reiter hielt ein Schwert, zweimal so lang wie das Messer Sanders, in der Hand und wandte den Kopf, der mit einem spitzen Helm aus Leder bedeckt war, langsam von rechts nach links und wieder zurück. Erst als das Schlachthorn erneut ertönte und ihm einen Befehl erteilte, trieb er sein Reittier an.
Fanyi legte ihren Fischern die Hand über die Schnauzen, damit sie still waren. Wieder spürte Sander, wie Rhin leise knurrte; aber keiner regte sich.
Ein weiterer Riesenhirsch – wenn es Hirsche waren – kam in ihr Gesichtsfeld, andere folgten. Die Reiter bewegten sich derart vorsichtig, daß Sander überzeugt war, daß sie mit einem Zwischenfall rechneten. Keines der anderen Wasserwesen hatte sich gerührt. Ja, wenn Sander in ihre Richtung blickte, konnte er, obgleich er doch beobachtet hatte, wie sie sich versteckt hatten, nur ein oder zwei von ihnen erkennen, und diese auch nur, weil er ihre Verstecke wiedererkannte.
Die Weißen suchten mit den Augen die zerklüftete Felswand ab. Als der letzte von ihnen den offenen Pfad betrat, sah Sander das langgebogene Schlachthorn, das ihm über den Rücken hing.
Ihre Gruppe war klein – ein halbes Dutzend zählte sie. Sie konnten sehr gut die Vorhut für einen Überfall sein, wie er damals von der Horde niedergeschlagen worden war, als Sander noch ein Kind war.
Sie trugen Mäntel aus langem, zottigem Fell, die völlig verdreckt waren. Darüber hatten sie breite Schärpen aus schmutzigem Stoff geschlungen. Sie schienen nicht miteinander zu sprechen, als sie anhielten, doch hatten sie die Hände erhoben und
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