Herrscher
Vorstellung richtete sich ihr Nackenhaar auf.
Nachdem Dar Treen-pah zur wohlverdienten Ruhe entlassen hatte, traf sie sich mit Ven-goth und Auk-goth. Letzteren kannte sie, denn er hatte sie und ihre Gefährten einst ein Stück ihres Weges begleitet. Da er außergewöhnlich groß und stark war, wirkte er nicht so, als hätte die lange Wanderung ihn über Gebühr ausgelaugt. Nachdem Dar ihn gesegnet hatte, lächelte sie. »Mein alter Sapaha ist wieder da.«
»Hai, Muth Mauk. Wenn du aber jetzt in meinen Nacken beißt, wirst du diejenige sein, die mich führt.«
Ven-goth war Dar zwar nie begegnet, aber sie hatte von ihm gehört. Nachdem sie ihm ihren Segen erteilt hatte, fragte sie: »Warst du nicht Fre-pahs Velazul?«
»Hai, Muth-Mauk, bis meine Muthuri uns ihren Segen versagte.«
»Sie wollte, dass du in der Nähe bleibst, und die Pah-Sippe lebt weit von der euren entfernt.«
»Das war ihr Grund.«
»Doch mein Hanmuthi ist noch weiter entfernt, und wenn ich in deinen Nacken beiße, ist es auch dein Heim.«
»Das hat Muth-goth auch gesagt, aber ich war bereit zu kommen.«
»Wer Mintari wird, kann nicht gesegnet werden. Glaubst du, Fre-pah wäre bereit, hier zu leben?«
Ven-goths Miene erhellte sich, und er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Hai, hai, Muth Mauk! Sie wäre höchst erfreut!«
Dar lächelte. »Es kommt selten vor, dass ein Sohn für eine Mutter spricht.«
»Fre-pahs Brustkorb und der meine sind eins, Muth Mauk. Du kannst jeden fragen.«
»Dann werde ich mit Muth-pah und Muth-goth darüber reden. Vergiss aber nicht, dass ich erst noch in deinen Nacken beißen muss.«
Ven-goth machte eine tiefe Verbeugung. »Ich würde mich freuen, Muth Mauk, denn es wäre mir eine Ehre, jemandem zu dienen, der so klug ist wie du.«
Nachdem Dar mit den Kandidaten der Goth-Sippe gesprochen hatte, begab sie sich in ihr Hanmuthi. Die abendliche Mahlzeit würde seit dreiunddreißig Tagen die erste sein, die nicht Bestandteil eines Festmahls war. Dar sehnte sich nach einer stillen Mahlzeit.
Hinter ihr lag ein stürmischer Tag, nicht nur für sie, sondern für den ganzen Familiensitz. Als sie durch die Korridore ging, spürte sie die Spannung in der Luft. Jeder Sohn und jede Mutter schien zu wissen, dass ihnen allen etwas von großer Tragweite bevorstand.
Hier kann man nur wenige Dinge geheim halten, dachte Dar, als ihr urplötzlich bewusst wurde, dass sie Yev-yat noch anweisen musste, ihre letzte Vision nicht zu enthüllen. Vor Muth-pahs und Muh-goths Ankunft war Dar der Meinung gewesen, die Sippe müsse erfahren, in welcher Gefahr sie schwebte, doch nun schienen die Umstände sich zu ändern. Wenn alle erfahren, was ich gesehen habe, bricht Panik aus.
Als neuer Angehöriger der Stadtwache musste Sevren auch Pflichten erfüllen, auf die er nicht erpicht war. Dazu gehörte die Nachtschicht, denn Diebe machten die Abendstunden zunehmend gefährlich. Als die Hälfte seiner dritten Nachtschicht fast um war, hörte er während seines Streifgangs durch die finsteren Gassen Taibens plötzlich eine leise Stimme: »Pssst! Wachmann!«
Sevren zog sein Schwert und schaute sich um. Er hielt
sich in einem Elendsviertel auf, in dem alle Fenster verrammelt waren. Seine Laterne spendete das einzige Licht. Hinter dem bleichen Schein, den sie warf, waren nur Schatten und tintenhaft verschwommene Umrisse zu sehen. »Wer ist da?«
»Ich«, erwiderte die Stimme.
Sevren schaute in die Richtung, aus der sie kam, und sah einen sich am Fundament einer Mauer bewegenden Schatten. Der in mehrere Lumpenschichten gehüllte Mann sah aus wie ein Haufen Müll. Sevren ging auf ihn zu.
»Ich bin kein Bösewicht«, sagte der Mann. »Ich könnte niemandem etwas antun, selbst wenn ich es wollte. Ich bin blind und verkrüppelt.«
»Woher weißt du dann, dass ich ein Wachmann bin?«
»Dein Gang hat’s mir gesagt. Bewegungen sagen viel über ’n Menschen aus, wenn man’s richtige Gehör hat. Ich hör dir jetzt drei Nächte hinternander zu. Ich weiß, dass du deine Runden immer nüchtern drehst, aber nicht ängstlich. Du hast ’n festen Schritt, und das sagt mir, dass du ’n anständiger Kerl bist. Keiner von denen, die ’n Bettler schütteln, bis ihm die Almosen aus der Tasche fallen.«
»Du schmeichelst mir, aber ich hab leider nichts für dich.«
»Haben Wachmänner nie. Aber ich hab was für dich.«
»Was denn?«
»’ne Warnung. Heute Nacht strolcht der Greifer draußen rum.«
Sevren hielt den Bettler für verrückt,
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