Herz aus Eis
noch ein Kind gewesen; aber schon galt es offenbar als ausgemacht, daß eine Chandler einen Westfield heiraten würde.
Und Houston hatte immer getan, was man ihr sagte. Blair stieg auf Barrikaden, Houston niemals. Mit den Jahren hatte Houston gelernt, genau das zu tun, was man von ihr erwartete. Jeder in ihrer Umgebung war der Meinung, sie sollte Leander Westfield heiraten, also machte sie sich diese Meinung zu eigen. Da sie eine Chandler war, wurde erwartet, daß sie eine Lady sei; also wurde sie eine.
Sich als dicke alte Frau zu verkleiden und in die Kohlenminen zu fahren, war die einzige undamenhafte Handlung, die sie sich in Ihrem Leben gestattet hatte.
Sie blickte in den Spiegel und sah, wie die Angst in ihr Gesicht trat bei dem Gedanken, was Leander wohl sagen würde, wenn er erfuhr, wer Sadie war. Leander wollte, daß alles nach seinem Kopf ging. Seine Gattin mußte eine Frau ohne Überraschungen sein.
Sie stand auf und löste die Bänder ihres Mieders. Dieser Abend war ein Abenteuer gewesen, ein einmaliges Ereignis, ehe sie alle Abenteuer aufgab und Mrs. Leander Westfield wurde.
Sie holte ein paarmal tief Luft, als sie das Korsett abgelegt hatte, und erlaubte sich noch eine respektlose Überlegung: Was würde ein Mann wie Kane Taggert tun, wenn er herausfand, daß seine Frau jeden Mittwoch mit einem Trödelwagen in die Bergwerkslager fuhr?
»Nun, Honey«, sagte Houston laut, mit der tiefen Stimme einer alten Frau, »sorge nur dafür, daß dir der Hut nicht auf dem Kopf verrutscht. Echten Ladies passiert so was nämlich nicht.«
Houston fiel auf ihr Bett und hielt sich den Mund zu, um ihren Lachreiz zu unterdrücken. Würden die Chandlers aus allen Wolken fallen, überlegte sie, wenn sie sich dazu entschloß, Mr. Taggerts Angebot anzunehmen?
Sie setzte sich gerade. Was in aller Welt sollte sie bei ihrer Hochzeit tragen? Vielleicht ein rotes Kleid mit Goldquasten?
Immer noch lachend, zog sie sich zu Ende aus und streifte ihr Nachthemd über. Es war doch nett gewesen, daß sie noch einen zweiten Heiratsantrag bekommen hatte. Wenigstens war es ein Beweis, daß nicht alle meinten, es wäre eine Selbstverständlichkeit, wenn Leander sie als sein persönliches Eigentum betrachtete. Jeder, Houston eingeschlossen, glaubte ihre Zukunft zu kennen. Sie und Lee waren schon so lange zusammen, daß sie genau wußte, was er zum Frühstück aß, wie er seine Hemden gebügelt haben wollte und was dergleichen mehr war.
Das einzige Unbekannte blieb die Hochzeitsnacht. Nun, vielleicht würde Leander nach dieser einen Nacht nicht von ihr erwarten, daß sie es gleich wieder tat. Vielleicht nur in großen Abständen. Es war nicht so, daß sie Männer nicht mochte, schon gar nicht nach den Ereignissen am Vorabend der Hochzeit ihrer Freundin Ellie: aber wenn Leander sie anfaßte, kam ihr das manchmal wie . . . nun, wie Inzest vor. Sie liebte Leander, wußte, daß sie keine Schwierigkeiten haben würde, mit ihm zusammenzuleben; aber der Gedanke, bei ihm zu liegen . . .
Sie stieg ins Bett, zog die Steppdecke bis zum Kinn hinauf und bereitete sich auf das Einschlafen vor. Sie überlegte flüchtig, wie Blair wohl mit Leander zurechtgekommen war. Zweifellos würde er morgen schlechter Laune sein, weil er sich natürlich wieder einmal mit Blair gestritten hatte. Sie konnten keine zwei Stunden beisammen sein, ohne sich einmal an die Gurgel zu springen.
Mit einem Seufzen glitt sie in den Schlaf hinüber. Heute hatte sie ein Abenteuer erlebt, morgen begann wieder das Einerlei ihres Alltagslebens.
Houston mußte sich schon Leanders Avancen erwehren, als er ihr in die Kutsche half, und wieder kam ihr der Gedanke, wie seltsam sie sich doch alle benahmen. Den ganzen Morgen über hatte Blair sie gemieden, und beim Frühstück hatte sie so ausgesehen, als hätte sie geweint. Es wird doch hoffentlich gestern abend nicht zu einem ernsthaften Streit zwischen Blair und Lee gekommen sein, dachte Houston. Oder war herausgekommen, daß sie die Plätze getauscht hatten? Hoffentlich nicht! Houston versuchte mit Blair über den gestrigen Abend zu reden, doch Blair hatte sie nur angesehen, als wäre ihr Leben zu Ende, und war dann aus dem Eßzimmer gerannt.
Um elf war Lee dann gekommen, um sie zu einem Picknick mitzunehmen — was für eine angenehme Überraschung —, und Houston hatte gehört, wie Blair ihm von der Veranda aus etwas zurief. Dann war Lee mitten auf der Straße zudringlich geworden, so daß Houston schon versucht gewesen war, ihm
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