Herz aus Glas (German Edition)
meinen Augen gleich noch ein bisschen interessanter.
Er behielt für sich, ob ihn mein Kompliment freute. Als er vor mir her zum Speisezimmer ging, sah ich, dass sich der fliederfarbene Umschlag wieder in seiner Hosentasche befand, obwohl er eine andere Jeans trug als gestern.
A ls ich das lichtdurchflutete Esszimmer betrat, war Henry gerade dabei, sich am Buffet den Teller vollzuschaufeln. Wie am Nachmittag zuvor gab es Kaffee und Waffeln, aber dazu kamen jetzt noch Eier und Speck, frische Brötchen und verschiedene Käsesorten. Schon wieder kam ich mir vor wie in einem Hotel. Grace stand in einer Ecke und wartete darauf, einen Auftrag zu erhalten. Als sie mich sah, schien sie erstaunt und beunruhigt zugleich, aber sie wich meinem forschenden Blick aus. Ob sie tatsächlich geglaubt hatte, ich würde ihre seltsame Warnung von gestern ernst nehmen?
David hatte sich nur einen Kaffee eingeschenkt und saß bereits an einem Ende des Tisches, der an diesem Tag mit fröhlichem hellgelbem Geschirr gedeckt war. Schweigend starrte er in seinen Becher, so als wollte er damit demonstrieren, dass er keine Lust auf eine Unterhaltung hatte.
Mit einem unterdrückten Seufzen trat ich neben Henry an das Buffet und sah zu, wie er dem Haufen Rührei auf seinem Teller mehrere Würstchen und ein paar Scheiben Speck hinzufügte. Als er bemerkte, dass ich ihn beobachtete, grinste er schon wieder. »Hatte heute Morgen noch nichts«, sagte er. Dann schob er sich eines der Würstchen ganz in den Mund.
»Warum bist du hier?«, fragte ich ihn.
Er antwortete mir mit vollem Mund. »Jason hat mir erlaubt, jederzeit herzukommen. Ab und zu übernachte ich auch hier. Seinetwegen.« Er schluckte und warf einen vielsagenden Blick in Davids Richtung. »Ich dachte mir, dass es vielleicht ganz gut ist, wenn du in den ersten Tagen ein bisschen Unterstützung bekommst.«
Ich verbiss mir jede Bemerkung, nahm eine Schüssel und füllte sie mit Obstsalat und Joghurt.
»Gut so«, lobte Henry, nachdem er sich ein weiteres Würstchen in den Mund gestopft hatte. »Pass bloß auf, dass du nicht zunimmst! Du könntest sonst womöglich nicht mehr durch die Gullys passen.«
Ich streckte ihm die Zunge raus und ging mit meinem Frühstück zu David. Ohne ihn zu fragen, ob es ihm recht war, setzte ich mich neben ihn. Ganz kurz schaute er auf. Wenn er genervt war, so verbarg er es hinter einer ausdruckslosen Miene.
Ich atmete einmal tief durch. »Okay«, meinte ich und mir fiel auf, dass ich mit dem Löffel wie mit einer Waffe auf ihn zeigte. Rasch legte ich das Ding weg. »Wir beide wissen, dass es zwei Möglichkeiten gibt, das hier durchzustehen: auf die harte oder auf eine angenehmere Tour.« Ich hielt inne, um ihm Gelegenheit zu geben, etwas zu antworten, doch er schwieg. Also redete ich einfach weiter: »Ich bin auch nicht ganz freiwillig hier und das Letzte, was ich vorhabe, ist, dir auf die Nerven zu gehen. Aber ich habe meinem Vater – und auch deinem, nebenbei bemerkt – versprochen, dass ich dir Gesellschaft leiste. Ich habe inzwischen begriffen, dass dir nichts daran liegt, aber ich fürchte …«
»Ich sagte gestern schon, dass wir das Ganze so elegant wie möglich über die Bühne bringen sollten«, fiel er mir mitten ins Wort.
Henry, der sich in der Zwischenzeit auf der anderen Seite neben David gesetzt hatte, lachte leise. Dann schaufelte er eine Gabel voll Rührei in seinen Rachen und begann, völlig unbekümmert zu kauen. David beachtete ihn nicht. Seine Hände lagen um den Kaffeebecher und es sah aus, als müsse er sich daran festhalten.
»Oh!« Ich war aus dem Konzept gekommen. »Gut.« Ich entschied mich, zum Gegenangriff überzugehen. Verdammt! Sonst war ich doch auch nicht auf den Mund gefallen. Warum nur kam ich mir schon wieder wie ein Volltrottel vor? »Was hat es mit diesem Lied auf sich?«, fragte ich.
Erneut lachte Henry. »Selbst schuld!«, hörte ich ihn murmeln. »Hättest wenigstens für eine Nacht auf den dramatischen Effekt verzichten können! Mondscheinsonate!« Er schnaubte verächtlich.
David funkelte ihn an. Seine Schultern waren plötzlich angespannt. An seiner Schläfe pochte eine einzelne Ader.
»Ich meine«, ergriff ich wieder das Wort, »ich habe das heute Morgen mal gegoogelt. Es heißt, dass Beethoven die Sonate an der Bahre eines verstorbenen Freundes improvisiert hat. Findest du nicht, dass es ziemlich schräg ist, wenn du sie Nacht für Nacht spielst?«
Zehn, fünfzehn Sekunden verstrichen. »Ja«, sagte
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