Herz aus Glas (German Edition)
ich frierend da, lauschte auf das gleichmäßige Geräusch, mit dem die Wellen sich an den Klippen brachen, und verspürte ein unruhiges Kribbeln in den Adern.
»Schwachsinn!«, murmelte ich diesmal laut. Gerade wollte ich das Fenster wieder schließen, als der Wind Fetzen einer Melodie heranwehte. Verwundert hielt ich inne, lauschte. Das Metall des Fensterriegels war eiskalt in meiner Hand. Wieder erhaschte ich eine kurze Tonfolge, irgendeinen Teil eines Klavierstückes, das sehr traurig und getragen klang. Und dann ließ der Wind nach und ich konnte die gesamte Melodie erkennen. In Deutschland hatte ich etliche Jahre lang Klavierunterricht gehabt, aus diesem Grund kannte ich mich ein wenig aus. Das Lied, das drüben im Haupthaus gespielt wurde, war Beethovens Mondscheinsonate, eines der schönsten Klavierstücke, das ich kannte.
Habe ich schon erwähnt, dass ich nah am Wasser gebaut bin? Ich kann anfangen zu heulen, einfach nur, weil ich Musik höre, die mir nahegeht. Und genau das tat ich jetzt. Ich lauschte den lang gezogenen, melancholischen Klängen und mir schoss Wasser in die Augen. Einige Minuten lang stand ich einfach nur regungslos da, während mir die Tränen über die Wangen liefen.
Dann, plötzlich, verstummte die Melodie mit einem hässlichen Misston, so als hätte jemand in einem Anfall von Zorn auf die Tasten geschlagen. Ich wartete darauf, dass weitergespielt wurde, aber das geschah nicht. Stattdessen setzte der Wind wieder ein. Das Rauschen der Brandung übernahm erneut die Regie und ein Möwenschrei wurde in Fetzen gerissen.
Ich wischte mir die Tränen vom Gesicht. Sorgfältig verschloss ich das Fenster und diesmal zog ich auch die Vorhänge zu.
Dann ging ich zu Bett. Und schlief endlich tief und traumlos ein.
Grace hatte mir erklärt, dass das Frühstück in demselben Raum serviert werden würden, in dem wir am Vortag Kaffee getrunken hatten. Da ich vermutete, dass mein Vater die halbe Nacht durchgeschrieben hatte und noch schlafen würde, verzichtete ich darauf, an seine Tür zu klopfen. Stattdessen marschierte ich gegen halb neun allein über den Rasen hinauf nach Sorrow . Ein eisiger Wind wehte vom Meer her und ich fiel in einen leichten Trab. Im Schatten des Herrenhauses bog ich um eine Ecke und knallte mit voller Wucht gegen einen riesenhaften Typen in schwarzem Ledermantel.
»Uff!« Er stolperte einen Schritt rückwärts. Dann packte er hastig zu und hielt mich fest, weil ich von seiner Masse zurückgeprallt war wie ein Gummiball von einer Mauer. Seine Hände waren riesig und warm. Fest schlossen sie sich um meine Oberarme. »Nicht so eilig!« Ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht. Er hatte einen Dreitagebart, für den er eine Menge Zeit und Pflege aufzuwenden schien. Darüber funkelte belustigt ein Paar hellblaue Augen. Ihre Farbe wollte nicht so recht zu seinen langen schwarzen Haaren passen, die der Wind zerzauste.
Ich wand mich aus seinem Griff. »Entschuldigung!«, murmelte ich. Der Typ hatte etwas an sich, das ich als uramerikanisch empfand, eine schreiend selbstbewusste Art, die hauptsächlich daher zu kommen schien, dass er wusste, wie gut er aussah.
Er lachte und ähnelte dabei dem jungen John Travolta. »Nichts passiert! Du musst Juli sein.« Sein Blick war forschend.
Ich nickte. »Ja.«
Er streckte die Hand aus. »Henry Farrisson.«
Ich schlug ein. Auf der Fahrt hierher hatte mir mein Vater erzählt, dass David einen Freund namens Henry hatte, der in der Nachbarschaft wohnte, im Geld schwamm und es daher nicht nötig hatte zu arbeiten. Irgendwie hatte ich ihn mir wesentlich älter vorgestellt, mindestens Mitte, Ende zwanzig. Er schien jedoch ungefähr in Davids Alter zu sein. »Du bist Davids bester Freund«, sagte ich.
Er rollte mit den Augen und sah plötzlich noch mehr aus wie John Travolta. »Davids einziger Freund, würde ich sagen.« Er wies in Richtung Herrenhaus. »Lass uns reingehen. Sonst frieren wir uns noch wichtige Körperteile ab!«
Ich war froh, dem eisigen Wind zu entkommen. Die Haut in meinem Gesicht prickelte bereits von der Kälte und ich hasste es, mit roter Nase herumzulaufen. In einer galanten Geste hielt Henry mir die Tür auf. Als wir den mit Teppich ausgelegten Flur betraten, durch den auch Grace mich gestern Abend geführt hatte, fielen mir die bunten und sehr modernen Gemälde auf, die hier hingen. Mein Vater hatte erwähnt, dass Henry malte. Ich erkundigte mich jedoch nicht nach seinen Bildern, sondern fragte stattdessen: »Wie
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