Herz aus Glas (German Edition)
zerstreutes Lächeln schenkte er mir, bevor ich ihn wieder in Ruhe ließ. Als ich mit meiner warmen Jacke über dem Arm zum Haupthaus zurückkam, stand David mit dem Autoschlüssel in der Hand in der Eingangshalle. Er hatte sich eine schwarze Lederjacke übergezogen und ich hatte den Eindruck, dass er an diesem Ort genauso fröstelte wie ich. Ich schaute zum oberen Treppenabsatz, aber da war nichts, was mein Unbehagen hätte erklären können. David folgte meinem Blick und seine Lippen teilten sich, als wollte er etwas sagen. Dann jedoch presste er sie wieder fest zusammen und schwieg. Als wir nach draußen gingen, hielt er mir die Tür auf.
»Also?«, meinte er. »Wohin soll’s gehen?«
Ich zuckte die Achseln. »Wenn ich ehrlich bin, habe ich keine Lust auf Shopping.«
Er stand regungslos und wartete. Der Autoschlüssel baumelte von seinen schlanken Fingern. Klavierspielerhände, dachte ich unwillkürlich.
»Wollen wir nicht einfach einen kleinen Spaziergang machen? Ich könnte ein bisschen frische Luft gebrauchen.« Ich schaute zum Himmel hinauf. Die Wolkendecke war ein wenig dünner als gestern, sodass man ab und zu ein kleines Stückchen eisiges Blau sehen konnte. Es roch heute auch nicht so stark nach Schnee. Der Wind blies jedoch genauso kräftig wie bei unserer Ankunft. Ich streifte mir die Jacke über, dann zog ich ein Tuch aus der Tasche und schlang es mir um den Hals. Schließlich raffte ich meine störrischen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen.
David steckte den Autoschlüssel weg. »Von mir aus.« Links vom Haupthaus, zwischen zwei Koniferen, die eine vom Wind leicht geneigte Form angenommen hatten, begann ein schmaler Pfad und verschwand ein Stück weiter zwischen dicht stehenden Wacholderbäumen. David zeigte darauf. »Der führt runter zum Strand und von dort dann um den ganzen Teil dieser Insel. Wenn du willst, gehen wir zum Leuchtturm.«
Ich willigte ein. »Aber nur unter einer Bedingung!«, sagte ich.
Er wartete.
»Du musst dich mit mir unterhalten! Noch so ein langes Schweigen wie gestern halte ich nicht aus. Wir können ja von mir aus irgendwelchen Small Talk m…«
»Ich war ziemlich unhöflich gestern, oder?« Der Wind zauste seine Haare.
Ich grinste, obwohl mir irgendwie nicht so recht danach zumute war. Immerhin war ich hier, um ihn aufzumuntern! »Könnte man so sagen, ja.«
Er nickte bedächtig und stieg dann die Stufen hinunter auf die gekieste Auffahrt. »Ich versuche, es heute besser zu machen.« Er überquerte die freie Fläche vor dem Haupthaus und steuerte auf den Pfad zu. »Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob es mir gelingen wird.«
Na wunderbar! Ich beschloss, das Beste aus der Situation zu machen. »Vielleicht erzählst du mir einfach ein bisschen darüber, wo du das Klavierspielen gelernt hast.«
»Ich hatte eine Lehrerin.« Davids Antwort war zwar nicht besonders informativ, aber immerhin war es eine Antwort. Während wir den schmalen Pfad entlangmarschierten, überlegte ich mir meine nächste Frage.
»Was gefällt dir so an der Mondscheinsonate?«
Er warf mir nur einen langen, schweigenden Blick zu und beschleunigte seine Schritte. Es sah aus, als wolle er vor der Antwort davonlaufen.
Verblüfft starrte ich ihm hinterher. »Oookaaay!«, sagte ich und ärgerte mich schon wieder über sein Verhalten. Hatte er nicht eben versprochen, heute freundlicher zu mir zu sein? So viel also dazu! »Dann eben nicht!«, murmelte ich trotzig. Und stolperte ebenso wortlos hinter ihm her.
Die Landschaft erinnerte mich stark an Rügen. Es gab Dutzende Pfade, die sich kreuz und quer durch das Ginstergebüsch schlängelten, und Wacholderbäume, die mindestens hundert Jahre alt waren. Ab und an ragte ein hellgrauer Findling empor, was so aussah, als habe ein Riese ihn dort verloren. Über uns kreisten Möwen in der kalten Luft. Ihr Geschrei klang wie höhnisches Gelächter.
Nachdem ich ihn eingeholt hatte, gingen David und ich eine Weile lang schweigend nebeneinanderher. Ich hatte mir gerade überlegt, wie ich das Gespräch wieder in Gang bringen konnte, als direkt vor uns eine Gestalt aus dem Unterholz trat. Vor Schreck machte ich einen kleinen Satz zur Seite und stieß dabei gegen David.
Er fasste nach meinem Ellenbogen. »Dad!«, sagte er.
Vor uns stand sein Vater, der offenbar auf Jagd war. Er hatte ein Gewehr dabei.
Ich warf David einen kurzen Seitenblick zu, dann machte ich mich aus seinem Griff los. »Mr Bell!«, grüßte ich. Mir war unbehaglich zumute und das lag
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