Herz aus Glas (German Edition)
hast du das eben gemeint, das mit dem einzigen Freund?«
Er ging neben mir her den Gang entlang. Sein fast bodenlanger Ledermantel schwang ihm um die Knöchel. Darunter trug er Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Im Gegensatz zu mir schien er gegen die Kälte immun zu sein. Mit einer Hand strich er sich die langen Haare zurück. Dann zuckte er die Achseln. »Sagen wir einfach, es gibt nicht viele Typen auf der Insel, die es längere Zeit mit ihm aushalten.« Von der Seite her betrachtete er mich. »Wirst du auch noch merken.«
Ich war mir ziemlich sicher, dass ich das bereits getan hatte. »Aber dich kann so schnell nichts in die Flucht schlagen?«, fragte ich mit gutmütigem Spott. Henry gefiel mir. Seine aufgekratzte, fröhliche Art wirkte auf die steife und traurige Atmosphäre von Sorrow wie ein Gegengift und vielleicht war das der Grund, warum ich an diesem Morgen nicht fröstelte, als wir die Eingangshalle erreichten und an der großen Freitreppe vorbeigingen.
Wieder zeigte Henry dieses Travolta-Grinsen. »Könnte sein, dass ich Masochist bin.«
»Henry, hör auf, kleine Mädchen anzubaggern!« Die leise Stimme, die plötzlich hinter uns ertönte, ließ mein Herz stolpern. Ich drehte mich um.
David stand auf der obersten Stufe der Treppe. Die Hand hatte er auf dem Geländer abgelegt, als müsse er sich Halt verschaffen. Er trug eine Jeans wie am Vortag, aber heute war es eine blaue. Dazu keinen Rollkragenpullover, sondern ein langärmliges weißes T-Shirt. Die Knopfleiste an seinem Hals war offen und gab seine Schlüsselbeine frei, die durch die blasse Haut aussahen wie Vogelknochen.
»Kleine Mädchen?«, grummelte ich. »Na danke! Sehr schmeichelhaft!«
Ganz kurz schaute David mich an, dann senkte er den Blick. Seine Augen waren etwas weniger rot als gestern, aber dafür lagen dunkle Schatten unter ihnen. Zu gern hätte ich ihn gefragt, ob er überhaupt geschlafen hatte. »Entschuldige.« Seine Stimme war ausdruckslos. »Ich wollte dich nicht beleidigen.« Er kam zu uns herunter. Ich hatte den Eindruck, er musste sich zusammenreißen, bevor er es wagte, das Geländer loszulassen.
Henry runzelte die dicken schwarzen Augenbrauen und ich wusste, dass auch er gesehen hatte, wie Davids Fingerknöchel weiß hervorgetreten waren. »Hey, Alter!«, grüßte er betont barsch. »Sag nicht, du hast wieder die halbe Nacht hindurch diesen alten Kasten gequält!«
Kasten? Die Frage musste mir am Gesicht abzulesen gewesen sein, denn Henry schob nach: »Ein Klavier. Er spielt öfter darauf, als gut für ihn ist.«
David war also derjenige gewesen, der letzte Nacht die Mondscheinsonate gespielt hatte!
»Ich wusste nicht, dass du Klavier spielen kannst«, sagte ich. Sein Spiel war gut gewesen, sehr ausdrucksvoll und sehr traurig. Was kein Wunder war, wenn man bedachte, was ihm kürzlich passiert war.
»Hast du oder hast du nicht?«, hakte Henry nach. »Gespielt, meine ich!« Da David ihm nicht antwortete, sah er mich forschend an. »Hat er oder hat er nicht?«
Ich war drauf und dran zu verneinen, doch dann siegte die Ehrlichkeit, die mich schon so oft in Teufels Küche gebracht hatte. Ich nickte.
Henry seufzte. »Was hast du gespielt?«, wandte er sich an David.
Der schwieg weiterhin. Für einige Sekunden maßen die beiden sich mit Blicken und ich hatte das Gefühl, dass sie eine Art stummen Kampf ausfochten.
Langsam schwang Henrys Kopf zu mir herum. Ich räusperte mich unbehaglich, schaffte es aber, die Klappe zu halten.
»Was, David?«, hakte Henry nach, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. »Beethoven?« Die letzte Frage war eindeutig an mich gerichtet.
Ich zuckte die Achseln, aber er nickte, als hätte ich seine Vermutung bestätigt. Mein Gesicht wurde heiß und ich verfluchte die Tatsache, dass man mir meine Gedanken wie immer direkt an der Nasenspitze ablesen konnte.
Henry schüttelte sachte den Kopf. »Du bist echt krank im Hirn, Alter!« Er klang gleichzeitig besorgt und gutmütig. Und mit diesen Worten marschierte er voraus in Richtung Esszimmer.
»Tut mir leid«, murmelte ich. Jemand hatte Zimmermannsnägel durch die Sohlen meiner Schuhe geschlagen und mich auf dem wertvollen Parkettfußboden festgenagelt.
David rührte sich noch immer nicht. »Hast du es wirklich gehört?« Er musterte mich und ich verspürte brennende Neugier zu erfahren, was er in diesem Moment wohl dachte.
Ich nickte. »Du spielst sehr gut.« Ich kannte nicht besonders viele Jungs, die Klavier spielten, und das machte ihn in
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