Herz aus Glas (German Edition)
dich gefragt, wie du mir auf die Schliche gekommen bist.«
Und da erzählte ich es ihm. »Das Buch. Die Täterin darin quält den Helden, indem sie der Erzählerin ein Kleid verpasst, das früher Rebecca getragen hat. Als ich das gelesen habe, wusste ich es.«
Henry schnalzte mit der Zunge. »Der Armreif, nicht wahr?«
Ich nickte, so gut es in seiner Umklammerung ging. Es war tatsächlich der Armreif gewesen, der ihn verraten hatte. »Der. Und das Bild«, sagte ich.
»Das Bild von Charlie?« Henry klang, als hätte er das längst vergessen.
Vor meinem geistigen Auge erschien das Gemälde und unwillkürlich kniff ich wieder die Augen zusammen, genau wie ich es vorhin in dem Lilienzimmer getan hatte. Wieder sah ich Charlie in ihrem fantastischen roten Kleid mit den langen Ärmeln und den opulenten Rüschen am Handgelenk. Und dann kippte das Bild, genau wie es alle Gemälde von Henry taten, und es enthüllte seine zweite Ebene. Eine Ebene, in der Charlies Augen nicht mehr lebendig und feurig aussahen, sondern kalt und leblos. Eine Ebene, in der statt des Haarnetzes Tang in ihre Haare gewoben war. In der Wassertropfen ihr makelloses Gesicht wie Tränen benetzten. Und vor allem eine Ebene, in der die rote Rüsche an ihrem linken Handgelenk sich als Armreif mit einem roten Stein entpuppte.
»Du wusstest sehr wohl, dass Charlie genau das gleiche Armband besessen hat, als du es mir geschenkt hast«, flüsterte ich. »Du hast es mir gekauft, weil du wusstest, dass du David damit bis ins Mark triffst.«
Henry kicherte, es klang schrecklich kalt. »Ich gebe zu, das war ein dummer Fehler. Aber die Verlockung war einfach zu groß.«
»Wie kannst du ihn nur so hassen?«, flüsterte ich. Die ganze Zeit über hatte ich den Blick nicht von David gelassen. Meine Augen fingen an zu brennen, als ich sah, dass ihm Tränen über die Wangen liefen. Er machte einen weiteren Schritt auf den Abgrund zu. Ich schüttelte verzweifelt den Kopf.
»Warum, Henry?«
»Weil er mir Charlie weggenommen hat!« Die Worte kamen wie ein giftiges Zischen aus Henrys Mund und unwillkürlich wurde sein Griff um meinen Hals wieder enger. Rote Punkte tanzten vor meinen Augen. »Ich habe sie geliebt, im Gegensatz zu dir, David!« Er bemerkte, dass ich kurz vor dem Ersticken war, und ließ ein wenig locker. Gierig sog ich frische Luft in meine Lungen, während Henry mit der freien Hand sein T-Shirt aus dem Gürtel zog und seine linke Rippenseite enthüllte.
Auf seiner Haut – genau an der gleichen Stelle wie bei David – prangte ein Tattoo mit Sanskrit-Zeichen!
»Du weißt, was das heißt, David?«, fragte er.
David nickte. »I am my beloved's and my beloved is mine.« Es war das, was auch auf seinem Körper stand.
»Ich hatte es zuerst«, sagte Henry nun. »Es war meine Idee, ich hatte es ihr vorgeschlagen. Aber sie hat nur mit mir gespielt. Sie hat sich in dich verknallt, David! Und sie hat dich dazu gebracht, dir ausgerechnet diesen Spruch auch stechen zu lassen!«
Mit einem schuldbewussten Ausdruck hob David Henry die Hand entgegen. »Davon wusste ich nichts, das musst du mir glauben! Ich hatte keine Ahnung von deinem Tattoo!« Ich dachte an die Poolparty. Henry hatte sein T-Shirt nicht ausgezogen. Offenbar hatte er es in Davids Gegenwart nie getan.
Henry schien David gar nicht gehört zu haben. »Du Mistkerl hast es dir stechen lassen! Du hast ihr die Ehe versprochen, du elendes Arschloch, und dann hast du sie hier auf der Klippe einfach sitzen lassen. Obwohl sie sich für dich ändern wollte. Sie hat es mir erzählt, dass sie verstanden hat, warum du sie nicht lieben willst. Die ganze Zeit über hat sie sich immer wieder bei mir ausgeheult, David! Kannst du dir vorstellen, was das mit einem Mann macht?«
Ich konnte es. Mein Herz zog sich vor Kummer, aber auch vor Wut zusammen. Diese Charlie war wirklich ein furchtbarer Mensch gewesen.
»Schließlich ist sie von der Klippe gesprungen.« Henry war fast am Ende seiner Geschichte, das merkte man ihm an. Seine Stimme klang erschöpft. Erschöpft, aber auch tödlich entschlossen. »Ironie des Schicksals, David: Der einzige Kerl, der ihr wirklich etwas bedeutet hat, wollte sie nicht!« Er zog mich noch ein wenig dichter an den Abgrund und drehte mich so, dass meine Fußspitzen jetzt in der Luft hingen. Einige Steinchen bröckelten unter meinem Gewicht weg, ich wurde fast nur noch durch Henrys Arm gehalten. Gleich würde es vorbei sein!
Aber Henry schien doch noch nicht ganz fertig zu sein.
Weitere Kostenlose Bücher