Herz aus Glas (German Edition)
sorgfältig abwägte. »Sie hat gestern Abend etwas sehr Seltsames zu mir gesagt.«
Henry verschränkte die Arme vor der Brust und wartete.
»Sie hat von einer Madeleine gesprochen. Sie wird kommen, hat sie gesagt. Und: Sie wird nicht dulden, dass Sie hier glücklich werden.« Das Letzte schob ich eilig nach. Ausgesprochen wirkte es noch viel bescheuerter und ich beschloss zu verschweigen, dass Grace zuvor mein ängstliches Schaudern in der Halle bemerkt hatte.
Einige Sekunden lang reagierte Henry nicht. Er stand einfach da, die Arme fest miteinander verknotet. In seinem Gesicht arbeitete es und es sah aus, als ringe er mit sich. »Grace gehört zum Stamm der Wampanoag«, sagte er, als würde das irgendwas erklären.
»Und?«
Sein Blick wanderte zum Haupthaus. Dicke Wolkenberge türmten sich dahinter auf wie eine Armee, die sich zum Angriff bereit machte. »Cooler Himmel!«, murmelte Henry. Er löste seine Arme, formte mit beiden Händen einen Rahmen und blickte hindurch, als wolle er prüfen, ob sich die Szenerie für ein Gemälde eignete.
»Henry!«, mahnte ich. »Red schon!«
Durch das Rechteck, das seine Finger bildeten, schaute er mich an. Dann ließ er die Arme sinken. »Die Wampanoag sind Indianer. Sie gehören zur Familie der Algonquin.«
Ich wartete.
Über Henrys Miene glitt ein Ausdruck von Verzweiflung. »Du bist ganz schön hartnäckig, weißt du das?«
Demonstrativ verschränkte jetzt ich die Arme vor der Brust.
Da endlich gab er nach. Er zuckte die Achseln. »Grace ist besessen von Madeleines Fluch«, erklärte er. »Das ist Folklore, nichts weiter! Eine Geistergeschichte, mit der man hier auf der Insel kleine Kinder erschreckt.« Und mit diesen Worten wandte er sich ab und ließ mich einfach stehen.
Verblüfft stiefelte ich ihm hinterher.
Ein Fluch? Geister?
Grace’ Warnung wisperte in meinem Hinterkopf.
Sie sollten Ihren Vater bitten, Sie so schnell wie möglich wieder von dieser Insel wegzubringen!
Als ich hinter Henry die große Halle des Herrenhauses betrat, kam Taylor gerade die Treppe herunter. Sie lächelte strahlend. »Oh! Das ist ja nett, dass ich euch treffe«, rief sie. »Habt ihr Hunger?«
Ihre Frage machte mir klar, dass es inzwischen weit nach Mittag sein musste. Mein Magen meldete sich mit einem leisen Knurren und ich legte die Hand auf den Bauch. »Und wie!« Vielleicht, dachte ich, ergab sich beim Essen eine Gelegenheit, mit Taylor über David und dabei auch über diesen geheimnisvollen Inselfluch zu reden.
Henry hingegen schüttelte den Kopf. »Ich muss los«, sagte er. »Ich habe heute Nachmittag einen Termin mit einem Galeristen in Haven. Vielleicht bekomme ich ihn dazu, meine Bilder auszustellen.«
»Ich dachte, du verkaufst deine Bilder bei Heather in Oak Bluffs?«, sagte Taylor.
Er verzog das Gesicht. »Heather hat einen Souvenirladen! Was ich brauche, ist eine echte Galerie!«
Da lachte Taylor. »Ich drücke dir die Daumen!«
»Spotte nur!«, knurrte er.
Taylor sah mich an. »Henrys Bilder sind, nun ja, sagen wir, ein wenig speziell!«, erklärte sie mir. »Wenn du sie siehst, wirst du verstehen, warum er Schwierigkeiten hat, sie an den Mann zu bringen.«
»Sie sind Kunst!« Henry machte ein verzweifeltes Gesicht, so, als habe er diesen Satz in seinem Leben schon millionenfach ausgesprochen und niemand ihn dabei ernst genommen. Aber in seinen Augen glitzerte es ironisch. Ich wusste von Dad, dass er es eigentlich nicht nötig hatte, seine Bilder zu verkaufen. Jedenfalls finanziell gesehen nicht. Sein Vater war ein bekannter Schönheitschirurg gewesen und hatte ihm nach seinem frühen Tod ein Vermögen vererbt, das ihm bis zu seinem Ende ein Leben im Luxus erlauben würde.
»Große Kunst! Klar!« Mit einem gutmütigen Lachen und einer vertraulichen Geste hakte sich Taylor bei mir unter. »Komm mit, Juli! Grace hat uns das Essen warm gehalten.« Und während Henry das Gebäude wieder verließ, wollte sie mich zum Speisezimmer ziehen.
Ich hielt sie zurück. »Ich gehe mir nur etwas anderes anziehen«, sagte ich und wies an mir hinunter. Meine robusten Schuhe hatten auf dem kostbaren Parkett unschöne Flecken hinterlassen und auch die Jeans, die ich trug, erschienen mir für das elegante Esszimmer eher underdressed . Konnte ja nicht schaden, sich ein bisschen mehr dem Stil des Hauses anzupassen, dachte ich.
Taylor, die eine Art Businesskostüm trug, wollte widersprechen, aber dann nickte sie doch. »Du hast recht.« Sie wies die geschwungene Treppe hinauf.
Weitere Kostenlose Bücher