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Herz aus Glas (German Edition)

Herz aus Glas (German Edition)

Titel: Herz aus Glas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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tatsächlich mehr erzählte als allen anderen, dann war das auf jeden Fall nicht mein Verdienst. »Sag mir, was genau passiert ist!«, bat ich Henry.
    »Zuerst galt es offiziell als Unfall.« Er rümpfte die Nase. »Die Polizei hat das Ganze untersucht. Die Kante der Klippe ist abgebrochen, das hast du vielleicht gesehen. Man hat Charlies Leiche nie gefunden, aber man hat die Leute befragt, die sie kannten. Alle waren übereinstimmend der Meinung, dass sie sich auf keinen Fall umgebracht hätte. Alle, bis auf David.«
    »Er hält es für Selbstmord. Wieso?«
    »Vielleicht gibt es einen Abschiedsbrief.«
    »Der fliederfarbene Umschlag in Davids Hosentasche!« Der Gedanke war mir ganz plötzlich gekommen.
    Ein Lächeln glitt über Henrys Gesicht. »Du guckst genau hin, oder? Ja, ich glaube auch, dass das ein Abschiedsbrief ist.«
    »David hat dir nicht erzählt, was drinsteht?«
    »Nie. Er wird zum Tier, wenn man ihn nur darauf anspricht! Das übrigens als kleiner Rat für dich.«
    »Danke.« Ich überlegte. »Du hast doch bestimmt eine Vermutung, was auf der Klippe passiert ist.«
    »Ehrlich: Ich weiß auch nur wenig! Die beiden haben ihre Verlobung bekannt gegeben. Mitte November war das, ich weiß das noch so genau, weil …« Er unterbrach sich, rieb sich die Stirn mit dem Daumengelenk. »Egal! Also es gab eine Verlobungsfeier. Und dann, nur einen Tag später, ist es passiert. Niemand kann sich erklären, was genau.«
    »David weiß es!« Ich war mir dessen irgendwie sicher.
    »Wie kommst du darauf?«, fragte Henry, aber es war mehr eine rhetorische Frage, eine, die man jemandem stellte, wenn man mit ihm gemeinsam nach Antworten suchte.
    »Er wirkt auf mich so sehr …« Ich suchte nach dem richtigen Wort. »… selbstquälerisch.«
    Henry nickte. »Oh ja!«, meinte er gedehnt. »Das ist er. Ich habe keine Ahnung, warum, aber aus irgendeinem Grund gibt er sich die Schuld an ihrem Tod.«
    »Aber er hat mit dir nicht darüber gesprochen?«
    »Er spricht mit niemandem darüber.«
    »Bekommt er professionelle Hilfe?« Ich war kein Fan der amerikanischen Unsitte, jede Lebenskrise zu einem Fall für den Psychiater zu erklären, aber hier wäre es wahrscheinlich eine gute Idee gewesen, dachte ich. So wie David aussah, brauchte er dringend Hilfe.
    »Nein. Sein Vater meint, dass Psychiater etwas für Frauen sind.« Henry verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Ich dachte wieder daran, was Jason gestern über Depressionen gesagt hatte. Irgendwie passte es zu ihm, aus reinem Machogehabe heraus seinem Sohn medizinische Hilfe zu verweigern. Eine tief sitzende Wut auf ihn erfasste mich und quetschte meinen Magen zusammen.
    »Immerhin hat er Taylor eingestellt«, startete Henry einen halbherzigen Versuch, Jason zu verteidigen. »Sie sorgt dafür, dass David Medikamente bekommt.«
    »Sie ist Physiotherapeutin!« Meine Stimme wurde ganz flach vor Ärger. »Und er hat sie eigentlich für sich selbst eingestellt.«
    »Stimmt. Aber sie ist auch Ärztin. Sie hat eine ganze Zeit in einem Krankenhaus in Nashville gearbeitet.«
    Ich rief mir Davids Gestalt vor Augen. Die Art, wie er erstarrt war, als Taylor ihn nach seinen Tabletten gefragt hatte. »Er wird sich Taylor nie im Leben anvertrauen«, vermutete ich.
    »Nope.« Henry schüttelte den Kopf, langsam, von rechts nach links und wieder zurück. Dann grinste er mich breit an. »Jason weiß das.«
    Ich begriff, was er damit sagen wollte. »Und darum bin ich hier!«
    »Yep!«
    Das Unbehagen, das ich angesichts der Größe meiner Aufgabe schon die ganze Zeit gespürt hatte, verdoppelte sich. Ich unterdrückte ein Seufzen. »Erzähl mir ein bisschen was über diese Charlie!«
    Henry überlegte kurz. »Okay! Wollen wir dafür auch einen kleinen Spaziergang machen?«
    Ich blickte in den bewölkten Himmel. Es sah nach Regen aus. »Von mir aus!«
    Henry schlug nicht den Pfad zu den Klippen ein, sondern führte mich die lange Auffahrt des Herrenhauses entlang und an deren Ende in einen kleinen Birkenwald. Unsere Schritte raschelten im Vorjahreslaub. Die Kälte war hier weitaus besser zu ertragen, denn ein Teil der Bäume hatte die braunen, trockenen Blätter nicht abgeworfen und das Laub hielt den Wind ab. Es rauschte leise in den Baumkronen.
    »Was willst du wissen?«, fragte Henry mich.
    Ich hatte die Fäuste in die Jackentaschen gestopft. »Keine Ahnung. Wie war sie so? David muss sie sehr geliebt haben.«
    Bei meinem letzten Satz verzog Henry die Lippen zu einem wehmütigen Lächeln.

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