Herz aus Glas (German Edition)
Wäschewagen auf dem Flur gewendet, was mühsam zu sein schien, denn die kleinen Metallräder versanken fast vollständig in dem knöcheltiefen Teppich. Erst als sie eine Entschuldigung in Jasons Richtung murmelte, weil sie mit dem Wagen vorbeimusste, schien er sie richtig zu bemerken. Er machte ihr Platz.
»Sie haben aber nicht wieder angefangen, unsere Gäste mit Ihren Schauergeschichten zu ängstigen, Grace?«, fragte er, halb im Scherz und halb ernsthaft.
Grace' Blick huschte erschrocken zu mir, ihre Augen weiteten sich. »Nein, Mr Bell. Natürlich nicht.« Und ich glaubte förmlich, ihr stummes Flehen zu hören: Verraten Sie mich nicht!
Jason ließ sich nicht so leicht hinters Licht führen.
»Hat sie, Juli?«, wandte er sich an mich.
»Was für Schauergeschichten?«, gelang es mir, so unschuldig wie möglich zu fragen.
Da lachte er. Laut und dröhnend. Irgendwie klang es erleichtert. »Schon gut! Unsere liebe Grace hat indianische Vorfahren, musst du wissen. Sie neigt dazu, überall Madeleines Geist zu sehen.«
Madeleines Geist.
»Geister.« Ich lächelte und hoffte, dass Jason mir meine gespielte Skepsis abnehmen würde. Meine Gänsehaut jedenfalls konnte er nicht sehen, schließlich trug ich lange Ärmel.
Grace' Blick ruhte noch immer auf meinem Gesicht. Sie war jetzt eindeutig blass, daran gab es keinen Zweifel. »Ich habe zu tun«, sagte sie leise und schob ihren Wagen an Jason vorbei.
»Wolltest du jetzt zu David oder nicht?«, fragte der mich.
Ich wollte nur noch fort von hier. »Wenn ich es recht überlege …«, murmelte ich. »Er war vorhin ziemlich erschöpft. Vielleicht schläft er ja.«
Jasons gute Laune erlosch. »Möglich.« Es war ihm deutlich anzusehen, dass ihm dieser Gedanke nicht besonders gut gefiel. Wahrscheinlich war ein Nickerchen am Tag in seinen Augen genauso weibisch, wie Depressionen zu haben. Ich musste wieder daran denken, was Henry mir vorhin erzählt hatte. Dass Jason sich weigerte, David zu einem professionellen Psychiater gehen zu lassen, weil er das für unmännlich hielt.
Ich unterdrückte den erneuten Anflug von Ärger und schaute in Richtung Treppe. »Ich glaube, ich gehe dann mal lieber.«
»Nein!«, sagte Jason. Mit einem schnellen Griff hinter sich vergewisserte er sich, dass die Tür des Lilienzimmers geschlossen war. »Ich sehe mal für dich nach, okay?«
»Ich habe keinen Hunger!«
Davids Stimme erklang so unvermittelt, dass ich herumfuhr. Er stand an den Türrahmen gelehnt da, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und wirkte unendlich abweisend. Ein Funkeln lag in seinen Augen, das ich nicht deuten konnte. Ich fragte mich, wie lange er wohl schon da stand.
Jason schnaubte missbilligend.
»Schon in Ordnung!«, versicherte ich rasch. Inzwischen war mir hier oben auf dem Flur mit den teuren Tapeten und dem dicken Teppich, den Friedhofsblumen und dem ganzen Gerede von Geistern so unbehaglich zumute, dass ich am liebsten sofort davongerannt wäre. »Ich gehe allein wieder runter, David. Du musst nicht …«
»David, du solltest nicht so unhöflich sein!«, rügte Jason seinen Sohn. »Kümmere dich gefälligst um deinen Gast!«
»Ich habe dir schon einmal gesagt, dass du Juli eingeladen hast, Dad, nicht ich!« David ließ den Blick nicht von meinem Gesicht, während er sprach. Er schien sich über irgendwas zu amüsieren. Darüber, dass seine Worte mich schmerzten? »Genau genommen ist sie also dein Gast.« Das Funkeln in seinen Augen erlosch und plötzlich wirkte er einfach nur müde. Ich bemerkte, dass er das weiße T-Shirt wieder gegen den schwarzen Rollkragenpullover getauscht hatte. Die Ärmel ragten ihm bis zur Mitte der Handflächen, was ihn furchtbar schutzbedürftig aussehen ließ.
Ich biss die Zähne zusammen. »Schon gut.« Ich machte ein paar Schritte auf die Treppe zu. Dabei musste ich dicht an David vorbeigehen. Er rührte sich nicht – auch nicht, als ich meinen Blick herausfordernd in seinen bohrte. Als ich aber den Fuß auf die oberste Stufe setzte, war er bereits wieder in seinem Zimmer verschwunden und hatte die Tür lautlos hinter sich ins Schloss gezogen.
Nach diesen ganzen seltsamen Erlebnissen hatte ich keinen Appetit mehr, dafür aber das dringende Bedürfnis, mit jemandem zu reden, der wenigstens ein bisschen normal war. Die einzige Person, die mir dazu einfiel, war mein Vater – obwohl die Bezeichnung normal für ihn ebenso unpassend schien wie für David und Jason.
Ich informierte also Taylor, dass sie doch allein
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