Herz aus Glas (German Edition)
Herz zusammen. Trotzdem sprach ich zu Ende. Ich musste es einfach wissen. »Das hier ist die Stelle, an der Charlie verunglückt ist, oder?«
Sanft entwandt er sich mir. Er antwortete lange Zeit nicht. Es war auch gar nicht nötig, denn ich wusste es längst. Ich hatte es in dem Augenblick gewusst, als die Klippen vor mir aufgetaucht waren.
Endlich, nach einer halben Ewigkeit, wandte David mir den Kopf zu. Seine Stimme war nur ein Hauch. »Sie ist nicht verunglückt.«
Ich wollte es nicht hören. »Sondern?«, flüsterte ich trotzdem.
»Sie hat sich umgebracht.«
Meine Lider schlossen sich von allein. Plötzlich schienen sie tonnenschwer zu sein.
In meinem Hinterkopf hörte ich Grace' gewisperte Warnung.
Madeleine wird nicht dulden, dass Sie hier glücklich werden.
Mit Mühe nur schaffte ich es, die Lider wieder zu heben. Es war kaum möglich, Davids Blick standzuhalten.
»Komm«, sagte er. »Gehen wir lieber zurück. Mir ist kalt.«
D a seid ihr ja!« In seinen langen Mantel gehüllt saß Henry auf einer Bank an dem leeren Pool zwischen Haupt- und Gästehaus. Er schaute uns entgegen, als wir den Pfad entlangkamen, und er schien mir sofort anzusehen, dass etwas geschehen war. Rasch steckte er das Handy weg, auf dem er bis eben herumgetippt hatte, und musterte erst mich eindringlich, dann David. Ich konnte Sorge in seinen Augen lesen.
»Alles in Ordnung!«, behauptete ich eilig.
David warf mir einen überraschten Seitenblick zu.
»Dann ist es ja gut!«, sagte Henry. Er wollte noch etwas hinzufügen, aber David fauchte ihn völlig überraschend und sehr grob an: »Hört auf, mich zu bemuttern!«
Langsam stand Henry von der Bank auf. Ich glaubte schon, er würde jetzt auch wütend werden, doch seine Stimme war ganz sanft, als er meinte: »Ich will dir nur helfen, Kumpel!«
Da sackte David zusammen, als habe Henry ihm einen Hieb in die Magengrube verpasst. »Natürlich«, murmelte er. »Das weiß ich. Entschuldigt!« Auf einmal wirkte er erschöpft. Er blickte in Richtung Haupthaus. »Habt ihr was dagegen, wenn ich mich zurückziehe?« Er sah mich an.
Ich schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht!«
David wandte sich Henry zu.
Der schürzte die Lippen. »Von mir aus …« Als David davonging, starrte er ihm mit finsterer Miene hinterher. Irgendwie erschien Henry mir wie ein fürsorglicher großer Bruder.
Mir steckte noch immer das eben Erlebte in den Knochen. Ich hatte tausend Fragen, aber ich wusste nicht, welche davon ich zuerst stellen sollte. »Das muss unheimlich schwer sein«, rutschte es mir heraus. »Freundlich zu ihm zu bleiben, obwohl er so fies ist, meine ich.«
Henry reagierte nicht sofort, sondern wartete, bis David im Haus verschwunden war. Endlich zuckte er die Achseln. »Er würde dasselbe für mich tun, wenn es mir so schlecht ginge.« Gleich darauf grinste er traurig. »Und ich fürchte, er wäre weitaus besser darin, meine Launen auszuhalten als ich seine.«
Ich nickte, obwohl ich mir dazu eigentlich keine Meinung bilden konnte. »Klar.« Ich überlegte. »Wir waren eben auf den Klippen. Dort, wo Charlie verunglückt ist.«
Henry riss die Augen auf. »Echt? Scheiße! Ich wusste es!«
»Ich hatte nicht das Gefühl, dass er springen wollte.« Es stimmte nicht ganz, denn ich hatte ja genau davor Angst gehabt. Aber trotzdem: Wenn ich die ganze Szene jetzt Revue passieren ließ, war ich mir ziemlich sicher, dass David nicht gesprungen wäre. Nicht vor meinen Augen jedenfalls. Dazu war er einfach zu rücksichtsvoll.
Verwirrt runzelte Henry die Stirn. »Hoffen wir, dass du dich nicht irrst.«
Ich musste daran denken, wie ich meinen Vater gefragt hatte, ob ich schuld sein würde, wenn David sich umbrachte. Ein mulmiges Gefühl machte sich in meinem Magen breit. »Stimmt es, dass sie sich umgebracht hat?«
Henrys Stirnrunzeln verwandelte sich in einen Ausdruck von Ungläubigkeit. »Hat David dir das erzählt?«
Ich nickte. Warum war das so überraschend? »Mein Vater hat gesagt, dass ihr Tod ein Unfall war.«
»Es ist nur so …« Henry rieb sich mit der flachen Hand über den Schädel. Seine langen schwarzen Haare knisterten leise. »Er spricht sonst nie darüber, was auf der Klippe passiert ist. Was hast du getan, dass er sich dir öffnet?« Er schien ehrlich an einer Antwort auf diese Frage interessiert zu sein.
Ich zuckte die Achseln. »Gar nichts.« Und das stimmte ja auch. Die ganze Zeit über hatte ich eher das Gefühl gehabt, dass ich mich ungeschickt benahm. Wenn David mir
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