Herz aus Glas (German Edition)
über auf der Insel. Charlies Vater war früher einmal Professor in Harvard gewesen, arbeitet aber seit Längerem nicht mehr dort. Charlies Mutter hatte die Familie vor anderthalb Jahren verlassen. Über die Umstände von Charlies Tod wusste Dad keine Details. »Jason hat mir versprochen, uns Genaueres zu erzählen, sobald wir erst mal da sind«, hatte er gesagt, kurz bevor wir an der Fähre in Woods Hole angekommen waren und auf die Insel übergesetzt hatten.
Und jetzt stand ich hier – vor einem viktorianischen Herrenhaus, das locker die Hauptrolle in einem Spukfilm hätte spielen können – und der Blick eines jungen Mannes mit roten Augen und bleichem, schmalem Gesicht hatte mich in eine Salzsäule verwandelt.
Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis Mr Bell sich endlich räusperte und sagte: »Nun ja. Ich denke, wir sollten rein ins Warme gehen, bevor wir Eiszapfen an der Nase kriegen!« Er lachte laut und dröhnend, was seine Unsicherheit nur noch deutlicher machte. Dann scheuchte er uns alle durch die breite, verglaste Haustür. Im Vorbeigehen erkannte ich, dass auf den Glasscheiben ein Pelikan mit seinen Jungen abgebildet war. Als David mir den Rücken zuwandte, sah ich, wie aus seiner hinteren Jeanstasche die Ecke eines zerknitterten fliederfarbenen Briefumschlags ragte.
Jason Bell führte uns in eine Halle, bei deren Anblick mir der Unterkiefer herunterfiel. Blank poliertes rotbraunes Parkett erstreckte sich von Wand zu Wand. Eine Sitzecke aus antiken Möbeln mit filigranen Beinen stand rechter Hand, eine antike Standuhr daneben. Eine geschwungene Freitreppe führte ins obere Stockwerk hinauf, direkt auf ein Fenster aus buntem Glas zu, das, ebenso wie die Haustür, einen Pelikan mit seinen Jungen zeigte. Die fahle Wintersonne fiel schräg durch dieses Fenster in die Halle und malte farbige Kleckse auf Treppe und Parkettfußboden. Obwohl wir den 27. Dezember hatten, gab es keinerlei Festdekoration – weder Tannengirlanden am Treppengeländer noch einen Weihnachtsbaum. Aber das war es nicht, was mich mit dieser sonderbaren Mischung aus Ehrfurcht und Unbehagen erfüllte. Es war die Atmosphäre des Hauses. Obwohl die Halle so weitläufig und mondän wirkte, überkam mich ein fürchterlich beklemmendes Gefühl, das ich im ersten Moment überhaupt nicht einordnen konnte. Es fühlte sich an, als sei ich von einem kalten Raum in einen noch kälteren getreten – was natürlich unmöglich war. Das Haus war beheizt und hier drinnen war es definitiv wärmer als draußen. Trotzdem überlief mich ein Frösteln, kaum dass ich die Türschwelle überschritten hatte.
Vor lauter Unbehagen stolperte ich und wäre vermutlich der Länge nach hingeschlagen, wenn David nicht reflexartig zugefasst und mich festgehalten hätte. Seine Hand war kalt und legte sich wie eine Schraubzwinge um meinen Oberarm. Ich murmelte eine Entschuldigung und er nickte schweigend. Sein Blick lag dabei forschend auf meinem Gesicht und seine rechte Augenbraue hob sich ganz leicht. Aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, dass er wusste, was ich empfand.
Mit einem verlegenen Lächeln machte ich mich los und betrat die weite Halle. Das Frösteln verstärkte sich kurz – und verschwand dann.
Ein vielleicht fünfzigjähriger, kräftiger Mann kam herbeigeeilt und seine freundliche Geschäftigkeit und die laute Stimme, mit der er uns willkommen hieß, überlagerten mein Unbehagen. Mr Bell wechselte einige Worte mit dem Mann, dann schickte er ihn nach draußen, um unser Gepäck zu holen. »Bringen Sie es gleich ins Gästehaus, Theo!«, befahl er ihm. Theo nickte schweigend und eilte davon.
»Praktisch«, raunte Dad mir zu. Ich zuckte zusammen. In Davids Anwesenheit hatte ich völlig vergessen, dass er auch noch da war.
»David«, wandte Mr Bell sich an seinen Sohn. »Führst du Juli bitte schon einmal ins Esszimmer? Ich möchte Bob nur kurz etwas zeigen.«
»Natürlich, Dad.« David schaffte es nicht ganz, den Anflug von Aufsässigkeit aus seiner Stimme zu halten. Klar! Er hatte auf die Sache hier genauso wenig Lust wie ich.
Kein Wunder!
Ich starrte in Dads Richtung. Du willst mich doch wohl jetzt nicht einfach allein lassen?, sagte mein Blick. In einer Geste, die fast komisch verzweifelt wirkte, hob er die Schultern.
»Wir sind sofort wieder da«, versprach Mr Bell. Und im nächsten Augenblick hatte er Dad bereits durch eine Tür hinauskomplimentiert. Ich wollte ihnen etwas hinterherrufen, doch bevor ich dazu kam, fiel die Tür auch schon ins
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