Herz aus Glas (German Edition)
sich noch gar nicht gefragt, warum Ihnen Miss Taylors rotes Kleid überhaupt in die Hände gefallen ist?«
Das hatte ich in der Tat nicht, weil ich es für einen dummen Zufall gehalten hatte. Ich stutzte. Woher wusste Grace überhaupt von dem Zwischenfall mit dem Kleid? Hatte Taylor ihr davon erzählt? Oder Henry? Vermutlich aber hatte Grace ihre Augen und Ohren einfach nur überall.
»Wissen Sie, was ich glaube, Miss Wagner?« Grace lächelte milde und sogar dieses winzige Heben ihrer Mundwinkel verursachte mir einen Schauder. »Ich glaube daran, dass Madeleines Geist einen Dinge finden lassen kann. Sie kann einen damit in den Wahnsinn treiben, und das tut sie bei Ihnen gerade.«
Dinge finden … hallte es in meinem Kopf wider. Der Boden unter mir schwankte stärker. Dinge, wie …
»Haben Sie in der letzten Zeit noch etwas anderes gefunden, außer dem roten Kleid, Miss Wagner? Etwas, das mit Miss Charlie zusammenhängt?«
Das Buch!
Als mein Kopf zu Grace herumruckte, kam die Welt nicht sofort hinterher. Es war ein fieses Gefühl, das mir leichte Übelkeit verursachte.
Woher weiß sie von dem Buch?
Ich brauchte einige Sekunden, bis mir einfiel, dass sie ja mein Appartement putzte. Mit Sicherheit hatte sie Rebecca dabei gefunden und einen Blick hineingeworfen. Sie musste Charlies Namen auf der ersten Seite gesehen und ihre Schlüsse gezogen haben. Sagt man nicht, dass das Personal besser über die Vorgänge in einem Haushalt Bescheid weiß als die Bewohner selbst? »Sie glauben doch nicht im Ernst, dass Madeleines Geist dafür gesorgt hat!«, wisperte ich.
Grace antwortete nicht, aber ich sah in ihren Augen, dass sie genau das dachte. Ich schluckte. Was hatte sie gestern zu mir gesagt?
Der Fluch ist bereits dabei, Ihr Leben zu zerstören.
»Das ist doch alles Schwachsinn!« Ich strich mir eine Haarsträhne aus der Stirn, aber sie fiel sofort an die alte Stelle zurück.
Grace trat neben mich und schaute auf das Foto. »Ich habe Sie gesehen, Miss Juli. Als Sie zum ersten Mal die Halle von Sorrow betreten haben. Sie haben es gespürt! Diese Präsenz von etwas Unerklärlichem, das in diesem Haus lebt …«
Von der Seite her schaute ich in ihr Gesicht. Tiefe Linien lagen um ihre Augen und um den Mund. Sie wirkte besorgt, aber gleichzeitig auch triumphierend. So wie jemand, der sich ganz sicher ist, dass er am Ende recht behalten wird.
Sie wartete, und als ich nichts erwiderte, meinte sie: »Sie haben es gespürt! Vom ersten Augenblick an standen Sie unter Madeleines Bann. Ich habe Sie gewarnt, aber Sie wollten nicht hören! Jetzt ist es wahrscheinlich längst zu spät!« Sie wandte sich wieder dem Bild zu, strich zärtlich darüber, mit der Oberseite ihres Fingers, wie man über die Wange eines Säuglings streicht. Dann begann sie plötzlich, leise vor sich hin zu summen.
Es war eine Melodie, die ich schon einmal gehört hatte. Sie summte ein paar Takte, dann sang sie den Text dazu. »It will not be long 'til our wedding day.«
Mir rieselte es eiskalt den Rücken hinunter. Ich wollte etwas sagen, aber plötzlich war meine Kehle so trocken, dass ich nur ein tonloses Krächzen herausbrachte. »Sie …« Ich brach ab, setzte neu an.
Grace registrierte meinen Schrecken sehr genau. »Sie haben es gehört. Letzte Nacht, nicht wahr?« Sie schien keinen Zweifel zu haben, dass es so war.
Ich wich einen Schritt zurück. Auf einmal war zu wenig Luft in diesem kleinen Raum.
»Sie haben es gehört!«, triumphierte Grace.
»Ja, weil Sie es geflüstert haben!« Langsam nur gewann mein Verstand wieder die Oberhand und mir wurde bewusst, wie sehr ich mich manipulieren ließ. Wut keimte in meinem Magen auf und ich klammerte mich daran fest, weil sie leichter auszuhalten war als dieses gruselige Unbehagen, das ich schon die ganze Zeit empfand.
Grace schüttelte sanft den Kopf. »Ich habe nicht geflüstert, das war Madeleine.«
»Klar!«, höhnte ich.
Mit einer wohlinszenierten Geste klappte Grace das Buch zu und hob es vor die Brust. Ebenso zärtlich wie eben über das Foto strich sie nun über den Einband.
Ich hatte die Nase voll. »Wissen Sie, was?«, fauchte ich sie an. »Erzählen Sie Ihre Ammenmärchen einem anderen Idioten!«
Nach diesem Ausbruch ließ ich Grace einfach stehen und stürmte die Dienstbotentreppe hinunter und zurück in den offiziellen Teil des Hauses. Dabei wäre ich beinahe gegen Taylor geprallt, die gerade mit einem Stapel Handtücher auf dem Arm auf dem Weg durch die Halle war.
»Hoppla!«,
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