Herz aus Glas (German Edition)
betrunken bist.«
»War ich nicht. Nur nicht so ein Monsterauto gewöhnt wie das von Jason. Da, wo ich gelebt habe, fahren wir Minis oder höchstens mal einen GM.«
In dem feuchten Sand direkt an der Wasserkante ließ es sich angenehm laufen. Die Dünung war heute nur flach, die Wellen plätscherten in kleinen weißen Schaumkronen auf dem Sand aus. Muscheln und Kies knirschten unter unseren Schuhen. Eine Weile lang liefen Taylor und ich schweigend nebeneinanderher und genossen einfach die Weite, die uns umgab.
Die salzige Luft kribbelte auf meinem Gesicht. »Wo du herkommst, hast du gesagt«, brachte ich das Gespräch irgendwann wieder in Gang. »Wo ist das?«
»Ich bin aus Brunswick in Tennessee. Aber ich bin da nicht geboren, ich habe dort nur achtzehn Jahre lang gelebt.«
»Wo bist du geboren?« Eine Möwe entdeckte uns und stieß auf uns nieder, um zu prüfen, ob wir etwas Fressbares für sie hatten. Einen Augenblick lang stand sie flügelschlagend über uns, dann begriff sie, dass wir kein lohnendes Ziel waren, und drehte ab.
»Hier auf der Insel. Ich habe die ersten Jahre meines Lebens hier verbracht.«
Das überraschte mich, ich wusste selbst nicht, warum. Sie machte nicht den Eindruck, eine Inselbewohnerin zu sein, auch wenn ich nicht so recht hätte sagen können, wieso ich dieser Meinung war. Vielleicht schien sie zu normal, vor allem aber viel zu fröhlich dafür. Die meisten Inselbewohner, die ich bisher kennengelernt hatte, hatten etwas Trübseliges oder Schwermütiges an sich.
»Warum bist du weg?«
»Sagen wir, mir war es hier zu langweilig.«
Ich nickte. Das konnte ich mir durchaus vorstellen. Martha’s Vineyard war toll, um hier Urlaub zu machen, aber hier zu leben, noch dazu, wenn man jung war und voller Abenteuerlust? Schwer vorstellbar!
»Und warum bist du wieder hergekommen?« Ich hatte die Frage noch nicht ganz ausgesprochen, als Taylor auf einen Felsen wies, der in ungefähr einer Meile Entfernung aus dem Meer ragte. »Wer zuerst dort ist!«, rief sie und rannte los.
Ich war so überrascht von ihrem Vorschlag, dass sie schon mehrere Meter Vorsprung hatte, bevor ich reagieren konnte. Aber so leicht kriegte sie mich nicht! Ich beschleunigte ebenfalls und nach zwei, drei Schritten gab ich richtig Gas.
Zweimal holte ich sie fast ein, aber jedes Mal bemerkte sie, dass ich herankam, und zog wieder an. Das Ganze hatte ein bisschen was vom Wettlauf zwischen Hase und Igel, aber jetzt war mein Ehrgeiz geweckt. Ich holte das Letzte aus mir raus, sodass es mir tatsächlich gelang, an ihre Seite zu kommen. Nebeneinanderher flogen wir über den nassen Sand. Und erreichten den Felsen fast gleichzeitig. Ich hatte eine Nasenspitze Vorsprung, aber nur, weil ich mich in die letzten Schritte warf und durch das Ziel stolperte. Mit beiden Händen voraus landete ich im Sand.
»Revanche!«, quietschte Taylor. »Du mogelst!«
»Gar nicht!« Keuchend wälzte ich mich auf den Rücken. Der Himmel über mir war sehr weit und sehr blau – geradezu verblüffend blau, wenn man daran dachte, wie nebelig es am Morgen noch gewesen war.
Auch Taylor sank in den Sand, ich setzte mich auf und wir beide drehten uns so, dass wir auf den Atlantik hinausschauen konnten.
Ganz hinten am Horizont, dort, wo ein riesiger Tanker seine Bahn durch das graue Wasser zog, türmten sich ein paar Wolken, die von der Sonne angestrahlt wurden und aussahen wie Wattebäusche.
Taylor zeigte darauf. »Schlechtwetterwolken«, sagte sie.
Skeptisch sah ich sie an. Auf mich wirkten die Wolken geradezu harmlos.
Aber sie war anderer Meinung. »Das sind typische Anzeichen, dass es einen Sturm geben wird!« Sie sagte das mit der Autorität eines Menschen, der auf Vineyard geboren worden war. Erst in diesem Moment fiel mir auf, dass sie meine Frage, warum sie zurück auf die Insel gekommen war, nicht beantwortet hatte. Ich machte sie darauf aufmerksam.
Sie lächelte schwach. Es sah traurig aus. »Eigentlich aus einem Anflug von Melancholie«, sagte sie. »Ich wollte ursprünglich nur ein paar Tage bleiben.«
»Warum bist du dann noch hier?«
Taylor blinzelte. »Weil ich auf eine Nachricht warte.«
D er Lauf und vor allem das Gespräch mit Taylor hatten dafür gesorgt, dass ich Grace, Madeleine und sogar David für eine Weile vergessen hatte. Ich hatte Taylor gefragt, auf was für eine Nachricht sie wartete, aber sie hatte nicht darüber sprechen wollen. Ich war nicht weiter in sie gedrungen und hatte es zugelassen, dass sie in eine
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