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Herz aus Glas (German Edition)

Herz aus Glas (German Edition)

Titel: Herz aus Glas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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schnappte ich. »Ich habe nicht vor, mich von der Klippe zu stürzen!«
    »Das ist nicht Ihre Entscheidung, fürchte ich.« Grace hatte einen Eimer mit Putzwasser in der Hand, das sie jetzt auf den Rasen neben der Terrasse kippte.
    »So ein Unsinn!« Ich raufte mir die Haare. »Es gibt keine Geister, und falls Sie es vergessen haben: Wir leben im 21. Jahrhundert! Flüche haben vielleicht im Mittelalter einmal eine Wirkung gehabt.«
    Mit einer resignierenden Geste stellte Grace den Eimer ab. »Kommen Sie mit!«, forderte sie mich auf. Es schien ihr gar nicht aufzufallen, dass sie einen regelrechten Befehlston angeschlagen hatte.
    Überrascht von ihrer plötzlichen Zielstrebigkeit warf ich einen letzten Blick in Richtung Pfad. David schien es sich anders überlegt zu haben. Er war umgekehrt und nun auf dem Weg zurück nach Sorrow . Erleichtert folgte ich Grace. Sie führte mich zum Haupthaus. In dem Gang zum Speisezimmer öffnete sie eine verborgene Tapetentür, die mir bis jetzt nicht aufgefallen war. Über eine schmale Treppe stiegen wir in das Stockwerk direkt unter dem Dach. Hier lagen die Zimmer, die dem Dienstpersonal vorbehalten waren. Die Teppiche waren hier weitaus billiger, die Tapeten schlicht und aus Papier gefertigt statt aus Seide wie unten. Es sah fast aus wie im vorletzten Jahrhundert – und es roch auch ein wenig so, staubig und nach Bohnerwachs.
    Grace führte mich in eines der Zimmer. Ein schmales Bett mit eisernem Rahmen stand unter der Dachschräge, dazu gab es ein einzelnes Regalbrett mit Büchern, einen Schrank, einen Schreibtisch und einen Stuhl davor. Das war die ganze Einrichtung. Eine Wand war vollgehängt mit gerahmten Bildern und die Patchworkdecke, die zusammengefaltet am Fußende des Bettes lag, schien handgearbeitet zu sein.
    »Hier!« Grace ging zu dem Regalbrett und zog einen alten Bildband heraus, den sie auf ihren Schreibtisch legte. »Schauen Sie!« Sie blätterte die großen, schon ziemlich vergilbten Seiten durch, bis sie gefunden hatte, was sie suchte. Mit dem Zeigefinger tippte sie auf ein Bild, das ungefähr postkartengroß rechts oben in der Ecke der Seite prangte. Ich beugte mich über das Buch. Das Bild zeigte eine junge Frau in einem ausladenden Kleid mit Reifrock und Mieder. Hinter ihr war ein Stück eines Schiffes mit eiserner Bordwand und einer Gangway zu sehen. Ganz offensichtlich war das Foto gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstanden, das konnte man an der Art erkennen, wie die Frau dastand und in die Kamera blickte. Das Bild hatte eine bräunliche Farbe, nur die Gestalt der jungen Frau war nachträglich koloriert worden, so, wie man es gern getan hatte, bevor die Farbfotografie erfunden worden war.
    Das Kleid der Frau war blutrot.
    »Lesen Sie!«, forderte Grace mich auf, aber das war gar nicht mehr nötig. Ich hatte längst erkannt, dass der Name des Schiffes, vor dem die Frau stand, City of Columbus lautete, und ich hatte auch die Bildunterschrift überflogen. Sie informierte mich darüber, dass diese junge Frau mit den hochgesteckten Haaren und dem wachen Blick Madeleine Bower war.
    »Das Kleid«, sagte Grace, für den Fall, dass ich immer noch nicht verstanden hatte.
    »Es ist rot«, nickte ich. Ich versuchte, aufsässig zu klingen, aber es gelang mir nicht so recht. Zwar wusste ich noch nicht, worauf sie hinauswollte, aber ihr Verhalten war mir unheimlich. Wenn ich nicht fest davon überzeugt gewesen wäre, dass es sich bei Madeleines Geschichte um eine Sage handelte, hätte ich an dieser Stelle ein ziemlich mulmiges Gefühl gehabt. Um ehrlich zu sein: Ich war mir langsam nicht mehr so sicher, ob an dieser verflixten Sage nicht doch mehr dran war.
    »Rot. Wussten Sie, dass Miss Charlie mit Vorliebe rote Kleider getragen hat?«, fragte das Dienstmädchen.
    Ich nickte nachdenklich. Wenn Taylor mir das nicht gesagt hätte, hätte ich allein aus Davids Reaktion drauf schließen können.
    »Und wussten Sie auch, dass Charlie ihre Vorliebe für rote Kleider erst entdeckt hat, als sie sich näher mit Madeleine Bowers Geschichte beschäftigt hat?«, fuhr Grace fort.
    Das Foto zog meinen Blick magisch an. Fast glaubte ich, die Geräusche des Bostoner Hafens zu hören, das Knarren der Planken, das Dröhnen der Schiffshörner und das Gelächter und die anzüglichen Sprüche der Seeleute. »Nein«, flüsterte ich. »Das wusste ich nicht.«
    Plötzlich fühlte ich mich flau, so als stünde ich auf dem schwankenden Deck eines Schiffes und nicht auf festem Boden.
    »Haben Sie

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