Herz dder Pflicht
kümmern, und Jack würde nicht verwildern.“
„Wie kannst du so etwas sagen?“, fragte die Tante entsetzt. „Wenn du dich auch in Gesellschaft in solch undamenhafter Weise äußerst, wundert es mich nicht, dass du keine Anträge erhältst.“
Pandora stand auf und ging im Zimmer auf und ab. „Würdest du es vorziehen, zusammen mit Jack und Großvater zu verhungern? Angesichts von Großvaters Krankheit, der Misswirtschaft meines Vaters sowie der Verschwendungssucht meines Halbbruders müssten wir alle in der Queen Street um ein Stück Brot betteln, wenn ich mit meinen einundzwanzig Jahren nicht die Verantwortung übernommen hätte.“
„Übertreibe nicht, Liebes.“
„Alle weigern sich, sich unserer tatsächlichen Lage zu stellen“, rief Pandora. „Im Augenblick halten wir uns gerade eben über Wasser. Wenn wir das schaffen, bis ich siebenundzwanzig bin, können wir einen Teil von Großvater Julians Erbe benutzen, um sicherzustellen, dass wir bei der Bank wieder angesehen sind.“
„Was würde deine liebe Mutter sagen, wenn sie dich so reden hörte?“
„Da sie nicht mehr lebt, stellt sich diese Frage nicht. Außer der Aufgabe, für Jack einen neuen Hauslehrer zu suchen und das Geld für dessen Lohn aufzutreiben, plagt mich eine weitere Sorge. Woher nimmt William die Mittel für sein aufwändiges Leben? Wenn er alle paar Monate nach Hause kommt, dann jedes Mal mit einer neuen Garderobe. Außerdem hat er sich einen kostspieligen Curricle zugelegt, dazu ein Gespann erstklassiger Pferde. Nur der Himmel weiß, welche Summen das alles verschlungen haben mag.“
„Falls er sich in die Klauen von Londoner Geldverleihern begeben hat, wird mit Sicherheit ein Tag der Abrechnung kommen. Sie werden vermutlich versuchen, seine angebliche Erbschaft zu pfänden. Doch da es, wie es aussieht, für ihn nichts zu erben gibt, dürfte er dann den Rest seines Lebens im Schuldgefängnis verbringen.“
Pandora setzte sich wieder. „Wenn ich an all das auch nur denke, wird mir elend.“
Ihre Tante legte die Handarbeit weg. Ihr war nur allzu bewusst, dass jedes Wort, das ihre Nichte äußerte, der Wahrheit entsprach. Eine ihrer größten Sorgen war, dass Pandora niemals heiraten konnte, weil sie möglicherweise so töricht sein würde, ihr ganzes Erbe dazu zu verwenden, den Familienbesitz der Comptons auf Vordermann zu bringen. Und wer würde eine Frau haben wollen, die über ihre Jugendblüte hinaus war?
Dabei wäre das Mädchen, wenn es seiner äußeren Erscheinung mehr Sorgfalt widmen würde, eine strahlende Schönheit, mit üppigen kastanienbraunen Haaren, leuchtend grünen Augen und einem wunderbar zarten Teint, den Pandora allerdings zielsicher ruinierte, indem sie sich der prallen Mittagssonne aussetzte, so dass sie gebräunt war wie eine Milchmagd. Ihre Körpergröße war ein Nachteil, doch ihr Aussehen und ihr Erbe würde das mehr als wettmachen.
„Du brauchst Ferien“, sagte die Tante unvermittelt, obwohl sie genau wusste, dass das Pflichtgefühl ihrer Nichte eine solche Möglichkeit nicht zuließ.
„Außerdem eine Saison in London“, setzte Pandora sarkastisch hinzu und lehnte sich mit geschlossenen Augen in ihrem Sessel zurück. „Ich weiß jetzt, weshalb sich Männer in einer schlimmen Lage wie der meinen betrinken, aber als Dame ist mir sogar das verwehrt.“
Tante Em dachte einen Augenblick nach. „Ich werde an meine Cousine Lady Leominster schreiben und sie bitten, sich in ihrem Londoner Bekanntenkreis nach einem vertrauenswürdigen Hauslehrer für Jack umzuhören. Damit wärst du wenigstens eine Sorge los“, verkündete sie.
Pandora stand auf und reckte sich höchst undamenhaft. „Ich kann nur hoffen, dass sie bald antwortet. Jack wird immer unbändiger. Und die Vorstellung, er könnte in Williams und Papas Fußstapfen treten, macht mich fast krank. Er braucht einen Lehrer mit starkem Pflichtbewusstsein und guten Kenntnissen in Latein und Altgriechisch. Es wäre vorteilhaft, wenn der Mann mit Zahlen umgehen könnte. Ich brauche dringend Hilfe beim Führen der Bücher für das Gut.“
Nachdem Pandora den Raum verlassen hatte, lehnte sich ihre Tante bekümmert in die Polster. Pandora ist ein gutes Mädchen und würde eine großartige Ehefrau abgeben, dach te sie. Doch wer sollte den Wunsch haben, eine willensstarke Frau zu heiraten, die sich wie ein Mann benimmt und auch so redet? Außer es gibt irgendwo einen Gentleman, der einen ebenso starken Willen besitzt und dem es gelingt, sie zu
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