Herz der Finsternis
Es ist der unspektakulärste
Wettstreit, den man sich vorstellen kann. Er findet statt in einer ungreifbaren Grauzone im Bodenlosen, im Nirgendwo, ohne
Zuschauer, ohne Beifall, ohne Ruhm, ohne Siegesverlangen, ohne große Angst vor der Niederlage, in der kränklichen Atmosphäre
lauer Skepsis, ohne rechten Glauben an das eigene Recht und noch weniger an das des Widersachers. Wenn das die letzte Weisheit
ist, dann ist das Leben ein noch größeres Rätsel, als manche von uns glauben. Ich war nur eine Haaresbreite von der letzten
Möglichkeit, mich zu äußern, entfernt und stellte gedemütigt fest, daß ich wahrscheinlich nichts zu sagen gehabt hätte. Aus
diesem Grund behaupte ich, daß Kurtz ein bemerkenswerter Mann war. Er hatte etwas zu sagen. Er sagte es. Seit ich selbst einen
Blick über den Abgrund geworfen habe, kann ich die Bedeutung seines Blicks besser verstehen, der nicht die Flamme der Kerze
sah, sondern weit genug, um das ganze Universum zu erfassen, scharf genug, um alle Herzen zu durchdringen, die in der Finsternis
schlagen. Er hatte resümiert – er hatte sein Urteil gefällt. ›Das Grauen!‹ Er war ein bemerkenswerter |120| Mann. Schließlich war dies das Bekenntnis einer Art von Glauben; es hatte Aufrichtigkeit, es hatte Überzeugung, es hatte den
Hauch bebenden Aufbegehrens in seinem Flüstern, das entsetzliche Gesicht einer flüchtig erblickten Wahrheit – die seltsame
Mischung von Verlangen und Haß. Und es ist nicht meine Grenzerfahrung, derer ich mich am besten erinnere – diese Vision gestaltloser
Grauheit, erfüllt von körperlichem Schmerz und gleichgültiger Verachtung für die Vergänglichkeit der Dinge – selbst für den
Schmerz. Nein. Es war seine Grenze, die ich erfahren habe, wie es scheint. Wohl wahr, er tat den letzten Schritt, er trat
über die Schwelle, während es mir gestattet war, mich zögernd zurückzuziehen. Und vielleicht liegt darin der Unterschied;
vielleicht ist alle Weisheit, alle Wahrheit, alle Aufrichtigkeit schlicht in den unbenennbaren Augenblick zusammengepreßt,
in dem wir die Grenze zum Unsichtbaren überschreiten. Vielleicht. Gerne würde ich glauben, meine Zusammenfassung wäre nicht
Ausdruck gleichgültiger Verachtung gewesen. Dann besser sein Schrei – viel besser. Er war eine Bestätigung, ein moralischer
Sieg, erkauft mit unzähligen Niederlagen, mit abscheulichem Schrecken, mit abscheulichen Freuden. Und doch ein Sieg. Das ist
der Grund, weshalb ich Mr. Kurtz bis zum Ende treu blieb, und selbst darüber hinaus, als ich ihn lange Zeit später noch einmal hörte, nicht seine Stimme,
sondern das Echo seiner großartigen Eloquenz, zurückgeworfen von einer Seele, die so durchscheinend klar war wie eine Kristallklippe.
Nein, sie begruben mich nicht, auch wenn es eine Zeit gibt, an die ich mich nur verschwommen erinnere, mit schauderndem Staunen,
die Fahrt durch eine unfaßbare Welt, in der es weder Hoffnung noch Verlangen gab. Dann war ich plötzlich wieder in der Gräberstadt,
und ich haßte den Anblick der Menschen dort, die durch die Straßen hasteten, um einander um ein paar Groschen zu bestehlen,
ihren gräßlichen Fraß zu |121| verschlingen, ihr ungesundes Bier zu saufen, ihre unbedeutenden, albernen Träume zu träumen. Sie störten meine Gedanken. Sie
waren Eindringlinge, deren Kenntnis des Lebens ich für eine ärgerliche Täuschung hielt, weil ich mir so sicher war, daß sie
unmöglich wissen konnten, was ich wußte. Ihr Benehmen, das nur das Benehmen gewöhnlicher Menschen war, die in uneingeschränkter
Sicherheit ihrem Tagewerk nachgingen, war für mich so anstößig wie die empörende Arroganz der Torheit im Angesicht einer Gefahr,
die ihr Begriffsvermögen übersteigt. Ich hatte kein sonderliches Bedürfnis sie aufzuklären, doch es kostete mich einige Mühe,
ihnen nicht ins Gesicht zu lachen, das so voll von törichter Wichtigkeit war. Freilich ging es mir zu jener Zeit nicht besonders
gut. Ich wankte durch die Straßen – verschiedene Dinge waren noch zu erledigen – und sah mit bitterem Grinsen auf vollkommen
achtbare Persönlichkeiten herab. Ich gebe es zu, mein Verhalten war unentschuldbar, aber andererseits war meine Temperatur
in jenen Tagen auch selten normal. Die Bemühungen meiner armen Tante, mich zu pflegen, bis ich wieder ›zu Kräften‹ kam, waren
fehlgeleitet. Nicht meine Kräfte mußten gestärkt, sondern meine Phantasie mußte beruhigt werden. Das Paket
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