Herz der Finsternis
mußten wegen der Reparatur an der Spitze einer Insel
halten. Diese Verspätung war das erste, das Kurtz’ Vertrauen erschütterte. Eines Morgens übergab er mir ein Paket mit Papieren
und einer Fotografie – das Ganze mit einem Schnürsenkel zusammengebunden. ›Heben Sie das für mich auf‹, sagte er. ›Dieser
üble Dummkopf‹ (gemeint war der Manager) ›ist dazu fähig, in meinen Kisten herumzuschnüffeln, wenn ich nicht hinschaue.‹ Am
Nachmittag sah ich wieder nach ihm. Er lag auf dem Rücken, die Augen geschlossen, und ich zog mich leise zurück, doch ich
hörte ihn flüstern: ›Lebe richtig, stirb, stirb ... .‹ Ich lauschte. Nichts folgte. Übte er im Schlaf eine Rede oder war es das Fragment eines Satzes aus einem Zeitungsartikel?
Er hatte für die Zeitung geschrieben und wollte es wieder tun – ›um meine Ideen voranzubringen. Es ist meine Pflicht.‹
Seine Finsternis war undurchdringlich. Ich betrachtete ihn, wie man zu einem Mann auf dem Grund einer Schlucht hinabspäht,
wohin die Sonne niemals scheint. Doch viel Zeit konnte ich ihm nicht widmen, denn ich mußte dem Maschinisten helfen, die lecken
Zylinder auseinanderzunehmen, eine verbogene Verbindungsstange zu richten und ähnliche Angelegenheiten. Ich lebte in einem
höllischen Durcheinander von Rost, Feilspänen, Muttern, Bolzen, Schraubenschlüsseln, Hämmern, Bohrknarren – von Kram, den
ich verabscheue, weil ich nicht auf gutem Fuß damit stehe. Ich bediente den kleinen Glühofen, den wir glücklicherweise an
Bord hatten; plagte mich mühselig in dem verdammten Schrotthaufen ab – wenn es der Schüttelfrost zuließ.
Eines Abends, als ich mit einer Kerze hereinkam, erschrak ich, als ich ihn mit bebender Stimme flüstern hörte: ›Hier liege |118| ich im Finstern und warte auf den Tod.‹ Das Licht war kaum einen Fuß von seinem Gesicht entfernt. Ich zwang mich zu antworten:
›Ach, Unsinn!‹, während ich wie versteinert über ihm stand.
So etwas wie die Veränderung, die über seine Züge kam, hatte ich nie zuvor gesehen und hoffe, es auch nie wieder sehen zu
müssen. Oh, ich war nicht erschüttert. Ich war fasziniert. Es war, als wäre ein Schleier zerrissen. Auf diesem Elfenbeingesicht
sah ich den Ausdruck von düsterem Stolz, von unbarmherziger Stärke, von feigem Schrecken – von tiefster und hoffnungsloser
Verzweiflung. Lebte er sein Leben noch einmal während jenes höchsten Augenblicks absoluten Wissens, in jeder Einzelheit der
Leidenschaft, Versuchung und Kapitulation? Flüsternd rief er irgendein Bild seiner Erinnerung an, irgendeine Vision – zweimal
rief er, ein Schrei, der kaum mehr war als ein Hauch:
›Das Grauen! Das Grauen!‹
Ich blies die Kerze aus und verließ die Kabine. Die Pilger aßen in der Messe zu Abend, und ich nahm meinen Platz gegenüber
dem Manager ein, der aufsah und mir einen fragenden Blick zuwarf, den ich erfolgreich ignorierte. Er lehnte sich zurück, heiter,
mit seinem eigentümlichen Lächeln, das die unausgesprochenen Tiefen seiner Niedertracht versiegelte. Ein stetiger Schauer
kleiner Fliegen flog gegen die Lampe, auf die Tischdecke, auf unsere Hände und Gesichter. Plötzlich streckte der Boy des Managers
den unverschämten schwarzen Kopf zur Tür herein und sagte, beißende Verachtung in seinem Ton:
›Mistah Kurtz – er tot.‹
Die Pilger stürzten alle hinaus, um nachzusehen. Ich blieb und aß weiter. Ich glaube, sie hielten mich für brutal und gefühllos.
Allerdings aß ich nicht viel. Hier drinnen gab es eine Lampe – Licht – versteht ihr – und draußen war es so scheußlich, scheußlich finster. Ich ging nicht mehr in die Nähe des |119| bemerkenswerten Mannes, der sein Urteil gefällt hatte über die Abenteuer seiner Seele auf dieser Erde. Die Stimme war fort.
Was sonst war da gewesen? Natürlich weiß ich, daß die Pilger am nächsten Tag irgend etwas in einem schlammigen Loch begruben.
Und dann begruben sie beinahe auch mich.
Doch, wie ihr seht, ich bin Kurtz nicht gleich an Ort und Stelle gefolgt. Nein. Ich blieb, um den Alptraum zu Ende zu träumen
und Kurtz noch einmal meine Loyalität zu beweisen. Schicksal. Mein Schicksal! Das Leben ist komisch – dieses geheimnisvolle
Arrangement gnadenloser Logik zu einem vergeblichen Zweck. Das Höchste, das man sich erhoffen kann, ist ein wenig Kenntnis
seiner selbst – die zu spät kommt – und deren Ertrag untilgbares Bedauern ist. Ich habe mit dem Tod gerungen.
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