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Herz der Finsternis

Titel: Herz der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Conrad
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Strebens hinausgelockt. Und, versteht ihr
     nicht, der Schrecken meiner Lage bestand nicht in der Gefahr, eins über den Schädel zu bekommen – obwohl mir auch diese Gefahr
     lebhaft bewußt war   –, sondern darin, daß ich es hier mit einem Wesen zu tun hatte, an das ich nicht im Namen von irgend etwas Höherem oder Niedrigerem
     appellieren konnte. Ich mußte ihn selbst anrufen, so wie es die Nigger taten – ihn – in seiner überspannten und unglaublichen
     Entartung. Denn es gab nichts, das über oder unter ihm war – und das wußte ich. Er hatte sich von der Erde freigetreten. Verdammt
     sei er! Er hatte die Erde selbst in Stücke getreten. Er war allein – und ich, der ich vor ihm stand, wußte ich nicht, ob ich
     Boden unter den Füßen hatte oder schwebte. Ich habe euch erzählt, was wir sprachen – die Worte wiederholt, die wir sagten   –, doch was nützt es? Gewöhnliche, |113| alltägliche Worte – die vertrauten vagen Laute, die jeden Tag gewechselt werden. Was heißt das schon? Hinter ihnen aber verbarg
     sich für mich die ungeheure Mehrdeutigkeit von Worten, die wir in Träumen hören, von Sätzen, die in Alpträumen gesprochen
     werden. Seele! Wenn je ein Mann mit einer Seele gekämpft hat, dann ich. Und es war kein Wahnsinniger, mit dem ich rang. Ob
     ihr es glaubt oder nicht, sein Verstand war vollkommen klar – wenn auch, zugegeben, mit furchtbarer Intensität auf sich selbst
     konzentriert, doch klar, und darin lag meine einzige Chance – es sei denn, natürlich, ich hätte ihn an Ort und Stelle umgebracht,
     was wegen des unvermeidbaren Lärms nicht ratsam gewesen wäre. Es war seine Seele, die verrückt war. Alleingelassen in der
     Wildnis hatte sie in sich hineingeblickt, und, Himmel, war darüber verrückt geworden. Und nun mußte ich – wegen meiner Sünden,
     vermutlich – die Qual durchstehen, selbst in sie hineinzublicken. Keine Eloquenz konnte vernichtender für den Glauben an die
     Menschheit sein als sein letzter Ausbruch von Aufrichtigkeit. Auch er kämpfte mit sich. Ich sah es – ich hörte es. Ich sah
     das unvorstellbare Geheimnis einer Seele, die keine Selbstbeherrschung kannte, keinen Glauben und keine Angst, und die doch
     blind mit sich selbst rang. Ich behielt einen einigermaßen klaren Kopf, doch als ich ihn endlich auf sein Bett gelegt hatte,
     wischte ich mir die Stirn ab, während die Beine unter mir zitterten, als hätte ich auf dem Rücken eine halbe Tonne den Hügel
     hinuntergeschleppt. Dabei hatte ich ihn nur gestützt, er hatte mir einen knochigen Arm um den Hals geschlungen – und er wog
     nicht mehr als ein Kind.
    Als wir zur Mittagszeit des nächsten Tages ablegten, strömten die Massen, deren Anwesenheit hinter dem Vorhang der Bäume mir
     die ganze Zeit quälend bewußt gewesen war, wieder aus dem Urwald heraus; sie füllten die Lichtung, bedeckten den Abhang mit
     nackten, atmenden, zitternden, bronzefarbenen |114| Körpern. Ich dampfte ein Stück flußaufwärts, dann wendete ich, während zweitausend Augen den Drehungen des platschenden, stampfenden,
     grimmigen Flußdämons folgten, der mit seinem schrecklichen Schwanz das Wasser peitschte und schwarzen Rauch in die Luft blies.
     Vor der ersten Reihe am Uferrand schritten drei Männer rastlos auf und ab, von Kopf bis Fuß mit rotem Lehm beschmiert. Als
     wir wieder auf ihrer Höhe waren, wandten sie sich zum Fluß, stampften mit den Füßen, nickten mit den gehörnten Köpfen und
     wiegten die scharlachroten Körper; sie schüttelten ein Büschel schwarzer Federn gegen den grimmigen Flußdämon, einen räudigen
     Balg mit herabhängendem Schwanz – etwas, das wie ein getrockneter Kürbis aussah; in regelmäßigen Abständen riefen sie lange
     Folgen erstaunlicher Wörter, die keinem Laut menschlicher Sprache ähnelten; und das tiefe Gemurmel der Menge, das plötzlich
     abbrach, klang wie die Antwortstrophe einer satanischen Litanei.
    Wir hatten Kurtz ins Ruderhaus getragen. Dort war es luftiger. Er lag auf dem Bett und starrte durchs offene Fenster hinaus.
     Jetzt kam Bewegung in die Masse der Körper, und die Frau mit der Helmfrisur und den kupferfarbenen Wangen stürzte herunter
     bis unmittelbar ans Ufer. Sie warf die Arme in die Luft, rief etwas, und der ganze wilde Mob nahm den Ruf als donnernden Chor
     klarer, schneller, atemloser Worte auf.
    ›Verstehen Sie das?‹ fragte ich.
    Er sah an mir vorbei, sein Blick brennend, voller Verlangen, mit einem Ausdruck von Sehnsucht und Haß

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