Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Herz der Finsternis

Titel: Herz der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Conrad
Vom Netzwerk:
zugleich. Er antwortete
     nicht, aber ich sah ein Lächeln, ein Lächeln von unbestimmter Bedeutung auf den bleichen Lippen, die einen Augenblick später
     krampfartig zuckten. ›Sollte ich nicht?‹ erwiderte er langsam, keuchend, als würden ihm die Worte von einer übernatürlichen
     Macht aus der Kehle gerissen.
    Ich zog die Leine der Pfeife, weil ich sah, daß die Pilger auf |115| dem Deck ihre Flinten herausholten, wohl in der Erwartung, sich einen Jux zu machen. Das plötzliche Schrillen löste eine Bewegung
     panischer Angst in der zusammengedrängten Masse von Körpern aus. ›Nicht! Verscheuchen Sie sie doch nicht‹, schrie es enttäuscht
     vom Deck herauf. Ich riß die Leine immer wieder. Die Menge stob auseinander, sie rannten, sie sprangen, sie krochen, sie wichen
     aus, sie duckten sich weg, alles um dem schrecklichen Schrillen, das durch die Luft flog, zu entgehen. Die drei roten Burschen
     hatten sich flach auf den Boden geworfen, mit dem Gesicht nach unten, als wären sie erschossen worden. Nur die barbarische,
     herrliche Frau wich keinen Zoll und streckte die bloßen Arme tragisch über dem düsteren, glitzernden Fluß nach uns aus.
    Und dann begann die schwachsinnige Meute unten auf Deck ihren Spaß zu haben, und ich konnte vor lauter Rauch nichts mehr sehen.«
     
    »Der braune Fluß strömte rasch aus dem Herzen der Finsternis heraus und trug uns zweimal so schnell zum Meer hinab, wie wir
     für unsere Fahrt stromaufwärts gebraucht hatten. Und auch Kurtz’ Leben verströmte rasch, verebbte, verebbte und floß aus seinem
     Herzen zurück in die See der unaufhaltsamen Zeit. Der Manager war sehr friedlich, er hatte nun keine ernsten Sorgen mehr und
     bedachte uns beide mit einem verständnisvollen, zufriedenen Blick: die ›Affäre‹ hatte den bestmöglichen Ausgang gefunden,
     den er sich wünschen konnte. Ich sah die Zeit nahen, da ich als einziger von den Anhängern der ›abwegigen Methode‹ übrig wäre.
     Die Pilger betrachteten mich mit Mißfallen. Ich wurde gewissermaßen zu den Toten gezählt. Merkwürdig, wie ich diese unvorhergesehene
     Partnerschaft akzeptierte, die Wahl der Alpträume, die mir in diesem düsteren, von gemeinen, gierigen Phantomen befallenen
     Land aufgezwungen worden war.
    |116| Kurtz sprach. Eine Stimme! Eine Stimme! Bis zuletzt bewahrte sie ihren dunklen Klang. Sie überlebte die Kraft, mit der er
     in den mächtigen Falten seiner Eloquenz die karge Finsternis seines Herzens verborgen hatte. Oh, er kämpfte, er kämpfte. Die
     Wüste seines müden Hirns wurde nun von schemenhaften Bildern heimgesucht – Bildern von Reichtum und Ruhm, die unterwürfig
     um die unauslöschliche Gabe seiner edlen, erhabenen Sprache kreisten. Meine Verlobte, meine Station, meine Karriere, meine
     Ideen – das waren die Themen, zu denen er gelegentlich seine hochfliegenden Ansichten äußerte. Der Schatten des ursprünglichen
     Kurtz’ besuchte regelmäßig die Bettstatt seines hohlen Doppelgängers, dem es bestimmt war, in Kürze im Moder der urzeitlichen
     Erde begraben zu werden. Doch sowohl die diabolische Liebe als auch der überirdische Haß gegen die Geheimnisse, in die sie
     Einblick erhalten hatte, kämpfte um den Besitz dieser Seele, die übersättigt von primitiven Gefühlen war, gierig auf verlogenen
     Ruhm, auf falsche Ehre, auf das Blendwerk von Erfolg und Macht.
    Manchmal war er beschämend kindisch. Er wünschte sich, an Bahnhöfen von Königen empfangen zu werden bei seiner Rückkehr aus
     einem gräßlichen Nirgendwo, wo er große Dinge vollbringen wollte. ›Wenn man ihnen zeigt, zu welchen Profiten man fähig ist,
     kennt ihre Anerkennung keine Grenzen‹, sagte er. ›Natürlich muß man für die Motive einstehen – die rechten Motive – immer.‹
     Lange Flußetappen, die wie ein- und dieselbe Etappe wirkten, eintönige Biegungen, die einander aufs Haar glichen, glitten
     am Dampfer vorbei mit ihrer Fülle hundertjähriger Bäume, die dem verrußten Bruchstück einer anderen Welt geduldig hinterhersahen,
     diesem Vorreiter des Wandels, der Eroberung, des Handels, der Massaker, der Wohltaten. Ich sah nach vorn – lotsend. ›Schließen
     Sie das Fenster‹, sagte Kurtz eines Tages unvermittelt. ›Ich ertrage den Anblick nicht.‹ Ich folgte seiner Bitte. Eine Zeitlang
     war es |117| still. ›Oh, ich werde dir noch das Herz auspressen!‹ schrie er dann die unsichtbare Wildnis an.
    Wir hatten einen Maschinenschaden – wie ich vorausgesehen hatte – und

Weitere Kostenlose Bücher