HERZ HINTER DORNEN
diesem Augenblick hatte sie angenommen, dass er schlief.
»Und wenn?«, entgegnete Roselynne ein wenig unwirsch. »Denkt Ihr, es kümmert ihn?«
Beide wussten sie, wer damit gemeint war.
»Ihn kümmert alles, was Ihr tut«, antwortete Jacques Boscot ruhig.
»Nicht mehr«, wisperte Roselynne bedrückt. »Er verachtet mich. Warum hat er mich nicht dort gelassen, wo ich war, wenn ich ihm so widerwärtig bin?«
»Kennt Ihr ihn so schlecht? Er hat dem König sein Wort gegeben, Euch nach Hause zu holen. Er ist nicht der Mann, der einen Schwur bricht.«
Sie presste die Lippen aufeinander. Sie begehrte diesen Mann mit all der Kraft ihrer Seele, aber dennoch fühlte sie sich nicht fähig, ein Urteil über seine Ehre zu fällen. Er war als Spion auf diese Insel gekommen. Als Bote eines Krieges, der ihre Welt bedrohte. Dass er den Tod bringenden Ring wieder an sich genommen hatte, musste nichts heißen. Vielleicht suchte er nur nach einem Weg, ihn sicher wieder nach Norden zu bringen. Vielleicht hatte er sie auch nur befreit, weil es ihm um eben dieses Pfand ging.
Die Zweifel schwärten in der Wunde, die seine Ablehnung jeden Tag von neuem schlug. Seine Verachtung, sein Misstrauen und seine Härte machten es sogar ihren geschärften Sinnen schwer, zu ihm durchzudringen. Wann immer sie sich auf ihn konzentrierte, überschwemmte sie eine solche Welle von wildem Zorn, dass sie es erschrocken wieder auf gab.
»Ich nehme an, dass ich ihn gar nicht kenne«, erwiderte sie nach langem Schweigen auf die Frage des jungen Mannes. »Er ist mir fremd.«
Sie machte temperamentvoll kehrt, um dem Gespräch und den Fragen zu entgegen, aber sie prallte hart gegen ein Hindernis, das eben noch nicht an dieser Stelle gewesen war. Ein Mauer aus Leder und Muskeln, die nicht von der Stelle wich und deren Wärme sie auf der Stelle bannte.
»Geh!«, hörte sie ihn heiser befehlen, und das leise Rascheln, mit dem Jacques seinen Platz verließ und die Treppen nach oben ging, war das einzige Geräusch an ihren Ohren.
Ihn hatte sie nicht vernommen. Nicht einmal gespürt! Dafür war ihr seine Gegenwart jetzt umso bewusster. Sie hatte die Hände gegen die Blockade erhoben und spürte unter ihren Handflächen den harten Schlag seines Herzens. Eines Herzens, das so düster und beladen seinen Dienst tat, dass ihr unwillkürlich ein Seufzer entfloh.
Warum war er nicht fähig zu glauben? Anzunehmen, was ihm das Leben in ihrer Person bot? Wie war es möglich, dass ein einziger, dummer, nichtssagender Kuss ihn in einen Stein verwandelt hatte? Weil er schon einmal von einer Frau zutiefst verletzt worden war? Weil er ihr die Fehler ihrer schönen Schwester vorwarf und es für einen Erbteil ihrer Familie hielt, dass ihre Töchter die Männer verrieten, die ihnen ihre Liebe schenkten?
Justin d'Amonceux fühlte den Vorwurf ebenso wie die Berührung. Wie kam sie dazu, ihm die Schuld an den Ereignissen zu geben? Was hatte sie an sich, dass sie mühelos durch alle Rüstungen drang, mit denen er sich zu wappnen versuchte?
»Nehmt Eure Hände von mir!«, befahl er, und seiner gepressten Stimme war anzuhören, dass er mit den Zähnen knirschte.
»Es gab Stunden, da mochtet Ihr es, dass ich Euch berührte«, wisperte Roselynne heiser. »Habt Ihr es vergessen?«
Sie hasste sich für die Schwäche, die sie dazu zwang, diese hilflose Frage zu stellen, aber gleichzeitig war es ihr auch egal. Was verlor sie in seinen Augen, wenn er sie schwach fand? Er verachtete sie doch ohnehin! Schlimmer konnte es nicht werden.
»Dann trag die Folgen, wenn du meine Erinnerung wecken möchtest«, zischte er.
Ehe Roselynne begriff, was er damit meinte, fand sie sich in einen hungrigen, brutalen Kuss gerissen, der ihre Lippen quetschte und sie so unerbittlich in seine Arme presste, dass ihr doppelt der Atem ausblieb, vielleicht auch weil sie selbst mit einem jähen Ausbruch ihrer mühsam unterdrückten Gefühle darauf reagierte.
Sie wich nicht zurück. Im Gegenteil, ihre Arme schlangen sich heftig um seinen starken Nacken und ihr Leib schmiegte sich schamlos mit jeder Fläche und Wölbung gegen die harte Kriegergestalt. Das Blut rauschte plötzlich doppelt so schnell durch ihre Adern und die vorherige Kälte wich einer alles versengenden Hitze.
Der Normanne hatte mit dem Widerstand einer beleidigten Lady gerechnet. Das Entgegenkommen traf ihn völlig unvorbereitet. Was immer er im Sinn gehabt hatte, um sie zu strafen, es verflog unter der Süße ihres Kusses, wurde von der
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