Herz im Spiel
bilden, und war der humorloseste Mensch, den Marianne je kennengelernt hatte.
Die Lehrer an der Akademie von Farnham mochten Miss Prince jedoch, weil sie ihren Unterrichtsstoff stets ernst nahm. Miss Prince nahm eben alles ernst.
Nun stand sie neben ihrem Pult auf und begann mit der Deklination. „Nauta, nautae, nautae,nautam, nauta.“
„Sehr gut, Miss Prince. Miss Baxter, silva , der Wald. Beginnen Sie.“
Ein Mädchen nach dem anderen erhob sich und deklinierte die lateinischen Substantive, die Mrs Avery ihnen vorgab. Das war nicht schwer – von ihrer ersten Unterrichtsstunde an hatten sie solche Übungen gemacht –, und trotzdem fiel es Marianne nicht leicht, sich zu konzentrieren.
Es war März. Obwohl es noch nicht warm und die winterliche Kälte endgültig vorbei war, fühlte Marianne sich außerstande, ihre Aufmerksamkeit auf den Lehrstoff zu richten. Und ganz bestimmt nicht auf Mrs Avery.
„Miss Trenton, terra , das Land.“
Schuldbewusst zuckte Marianne zusammen und stand auf.
„ Terra “, wiederholte sie. „Terrarum, terris …“
„Nicht im Plural, Miss Trenton. Im Singular. Versuchen Sie es noch einmal. Terra …“
Eigentlich machte Marianne in Farnham gute Lernfortschritte. Die liebe Mrs Grey hatte den Schülerinnen endlich gestattet, einige der Biografien des Plutarch in ihren Literaturkanon aufzunehmen. Die Mädchen in der Akademie hatten über Perikles und Coriolanus gelesen. Sobald sie Julius Cäsar hinter sich gebracht hatten, würden sie sich, wie Mrs Grey andeutete, vielleicht mit den Bekenntnissen des Heiligen Augustinus beschäftigen.
Einige der Mädchen hatten die Hoffnung, Augustinus habe vielleicht ein wildbewegtes, lasterhaftes Leben geführt und schwere Sünden begangen, die zu bekennen er sich genötigt gefühlt hätte. Doch so, wie Marianne Mrs Grey kannte, hegte sie keine derartigen Erwartungen.
Wehmütig schweifte Mariannes Blick wieder zum Fenster. In ihrer Freizeit wanderte sie mit Nedra über die Feldwege in der Umgebung der Farnham-Akademie. Das Gras wurde schon grün, obwohl die wenigen Blumen, die schon im März blühten, noch fest geschlossen waren, mit Ausnahme der Narzissen und Krokusse, die beim ersten Sonnenschein ihre ganze Farbenpracht entfaltet hatten.
Jedes frische Blatt, jedes zirpende Insekt erinnerte Marianne an Kingsbrook. Sie stellte sich vor, wie sie mit den Fingerspitzen über das hohe Gras auf der Wiese strich, das seit dem letzten Jahr vertrocknet war und erst jetzt durch frisches Grün ersetzt wurde.
Auch die Singvögel würden sich zu dieser frühen Jahreszeit anders verhalten. Im letzten Juni hatten sie fröhlich und selbstzufrieden gewirkt, aber im Mai würden sie laut und heiser singen und versuchen, einander mit ihren Balzgesängen zu übertreffen.
Und sie stellte sich die Laube vor, sah sich selbst im kühlen Schatten sitzen, eines der Bücher aus der Bibliothek von Kingsbrook in der Hand haltend. Dort würde es ihr noch schwerer als in Mrs Averys Lateinunterricht fallen, sich auf die gedruckte Seite zu konzentrieren. Jedes unerwartete Geräusch würde sie erschrocken aufblicken lassen …
Weil sie dieselbe Person erwartete, die sie bei ihrem ersten Aufenthalt dort überrascht hatte? Ernst und abweisend wirkend, das Haar zerzaust? Und würde sie enttäuscht sein, wenn sie jedes Mal nur einen Hasen oder einen Vogel sah?
Doch an der Farnham-Akademie war die Landschaft im kühlen Monat März nicht ganz so idyllisch, und nachdem die beiden eine Woche lang in der feuchten Kälte draußen umhergewandert waren, zog Nedra sich eine fiebrige Erkältung zu. Man stellte ihr Lager in die Krankenstation und verordnete ihr strengste Bettruhe.
„Geht es dir besser?“, fragte Marianne am folgenden Tag hoffnungsvoll von der Tür aus.
„Ich habe schon vergessen, wie sich das anfühlt“, meinte Nedra und drehte sich stöhnend auf die Seite.
Marianne schlich auf Zehenspitzen aus dem Krankenzimmer. Sie musste zugeben, dass es gemein von ihr war, auszugehen und das schöne Wetter zu genießen, während Nedra krank war. Aber die Sonne würde scheinen, und ein sanfter Wind würde wehen, egal ob sie nach draußen ging oder nicht. Mit diesem Gedanken schlang sie sich einen Schal um die Schultern und ließ rasch die Akademie hinter sich.
Hinter der Schule lag ein bewaldeter Hügel. Die Fußpfade dort führten zu stufenförmig angelegten Wegen, über die man schließlich auf die Straße nach Portsmouth gelangte. Der Aufstieg konnte anstrengend sein,
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